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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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nicht meiner! singt er bei Vater. Es ist eine grandiose Arie in As-Dur, geführt von der Klarinette und untermalt von Bratsche und Fagott. Und wenn es keinen Gott gibt: Wer sorgt dann für Gerechtigkeit? läßt Vater Kohlhaas singen, bevor er hinausgeht. «C’est ça!» rief Juliette und donnerte die Frage in die Tasten. Er hat sich ausdrücken können, unser Vater, wenn er hinter der Polstertür seine Notenbogen füllte.
    Es hat Vater nicht gefallen, daß Kohlhaasens Wille laut Kleist gebrochen war, nachdem es den Vorfall auf dem Marktplatz in Dresden gegeben hatte, bei dem seine abgemagerten Pferde zum Gespött geworden waren. Der Chor schweigt sich darüber aus, und auch Kohlhaasens Absicht, in ein fernes Land zu flüchten, wird verschwiegen. Die Dickfütterung der Rappen hatte seine von Gram sehr gebeugte Seele aufgegeben. Diese Auskunft von Kleist konnte Vater nicht gelten lassen.
    Der dritte und letzte Akt ist dem Thema gewidmet: Gerechtigkeit vor Leben. Kohlhaas hat von der Zigeunerin die Kapsel mit dem Zettel erhalten, auf dem das geweissagte Schicksal des Kurfürsten von Sachsen steht. Die Kapsel ist das Druckmittel, mit dem er sich Leben und Freiheit verschaffen könnte. Vater läßt den Chor ausrufen: Eine winzige Kapsel gegen Leben und Freiheit! Damit wird eine lange, schrille Arie von Kohlhaas vorbereitet, der endlich die Chance sieht, sich am Kurfürsten zu rächen, der ihm die Gerechtigkeit verwehrt hat: Du kannst mich auf das Schafott bringen, ich aber kann dir weh tun, und ich wills!
    Juliette hörte auf zu spielen und schüttelte sich vor Lachen, als sie Vaters Anweisung an den Sänger las: (Stimme muß sich überschlagen.) Vater, er hat sich nie an die Regeln gehalten, wenn es um Wichtiges ging.
    Immer wieder bittet Lisbeth Kohlhaas, die Chance, die in der Kapsel liegt, zu ergreifen. Sie singt: Zu vergessen mußt du lernen! Es ist eine sanfte, getragene Arie in hellem Dur, und man wünscht sich, sie möge nie aufhören. Auch diese Einsicht und diese Tonlage trugst du in dir, Vater.
    Wer mir sein Wort einmal gebrochen, mit dem wechsle ich keins mehr! erwidert Kohlhaas und zwingt Lisbeth (ja, so muß man es ausdrücken) zur Loyalität. Sie singt: Von Gerechtigkeit verstehst du mehr! Juliette schauderte und griff ständig in die falschen Tasten.
    Es kommt der Tag der Hinrichtung. Hier hat Vater mit Kleist gerungen, die letzten Seiten des Texts sind übersät mit Durchgestrichenem. Was er zu einer großen Szene gemacht hat, ist, wie Kohlhaas auf dem Richtplatz auf den Kurfürsten zugeht, vor seinen Augen die Kapsel öffnet, den Zettel liest und dann verschluckt. Du wirst es nie erfahren! singt er, und: Über Nacht wird dich dein Schicksal einst ereilen! Die Klänge sind so, als triebe Kohlhaas dem Kurfürsten die Worte mit der Faust ins Gesicht.
    Was Vater dagegen unerträglich fand, ist die Bereitwilligkeit, ja Unterwürfigkeit, mit der Kohlhaas sich dem Scharfrichter beugt. Kohlhaas, indem er seinen Hut abnahm und auf die Erde warf, sagte: daß er bereit dazu wäre! Das hat Vater mit solcher Wut durchgestrichen, daß es einen Riß im Papier gab. Im Libretto geschieht etwas anderes: Kohlhaas täuscht eine demütige Bewegung vor, dreht sich dann blitzartig um und entreißt dem Scharfrichter das Beil. Genau in diesem Moment fällt der Vorhang, hat Vater hingeschrieben. Die Musik bricht mitten in einem Trommelwirbel, der beginnende Fanfarenklänge begleitet, ab. Als sei ein Tonband gerissen.
    «Ein Einfall», sagte Juliette. Ein bißchen größer hätte das Lob schon sein können, finde ich.
    Beim Dessert, das Juliette nachher aus der Tasche zauberte, kam sie auf Anton und Antonina zu sprechen. Vor allem auf Anton, der im Vergleich zur Schwester eine blasse, nichtssagende Figur ist.
    «Das muß nichts über seine Gefühle für dich sagen», meinte sie.
    «Nein, natürlich nicht», gab ich gereizt zurück.
    Ich hatte mir geschworen, sie nicht nach ihrem Urteil über Vaters Musik zu fragen. Schließlich ist Vater am Bedürfnis nach Anerkennung zugrunde gegangen. Ich habe es dann doch nicht lassen können und habe sie gefragt, wie sie die Musik handwerklich betrachtet finde.
    «Willst du meine ehrliche Meinung?»
    «Ja.»
    «Er war ein geübter Dilettant.»
    Es traf mich dann doch. Sie sah es mir an.
    «Einer mit ungewöhnlich viel Phantasie.»
    Als sie merkte, daß ich in Wortlosigkeit versank, ging sie an den Flügel und improvisierte über Vaters Melodien.
    Bevor sie ging, übermittelte sie mir eine

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