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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Einladung ihrer Eltern. Offenbar sind die Arnauds neugierig auf den Sohn des scheuen Klavierstimmers. Ich habe abgelehnt, aber erst nachher verstanden warum: Ich bewege mich in dem leeren Haus, in Vaters Musik und in unserer Vergangenheit, ich gehe hin und her darin und ziehe Kreise, und das hat nicht das geringste mit Berlin, mit dieser bestimmten Außenwelt und ihren Menschen zu tun. Von alledem will ich nichts wissen, den Gang in den Supermarkt bringe ich mit geschlossenen Augen hinter mich, ich kaufe Berge von Dingen ein, die sich lange halten, um mich nachher wieder verbarrikadieren zu können.
    Zunächst war Juliette wie vor den Kopf gestoßen, und für eine Weile blickte sie stumm zu Boden. Als sie den Kopf hob, war ein Lächeln auf ihrem Gesicht.«Natürlich nicht», sagte sie.

    Ich muß aufpassen: Wenn ich die falschen Worte mit Juliette wechsle, droht das Schreiben zu versiegen. Als ich das merkte, geriet ich in Panik und wählte deine Nummer. Ich war erleichtert, daß die Leitung immer noch tot war.
    Warum eigentlich haben wir ausgemacht, nicht anzurufen? Was wir wollen, sind festgefügte Worte, die Bestand haben. Nicht das Flüchtige und Verwischte, das Gespräche an sich haben. Und nicht die Verführung durch stimmliche Nähe.

    Ich vermisse dich, Patty, und ich denke an den Nachmittag, an dem ich dich nach sechs langen Jahren wiedersah.
    Ich hatte dich gebeten, mich nicht am Flughafen abzuholen. Trotzdem sah ich mich um und war enttäuscht, daß du nicht da warst. Wie schon in Frankfurt überraschte und störte es mich, daß hier alle Deutsch sprachen. Warum, verstand ich nicht. Ich dachte an den schläfrigen Singsang der Lautsprecherstimme in Buenos Aires. Die Stimme fehlte mir jetzt, und ich fragte mich, wann ich sie wieder hören würde. In unverständlicher Hast, wie auf der Flucht, strebte ich dem Ausgang zu.
    Am Mexikoplatz ließ ich das Taxi halten. Plötzlich hatte ich es nicht mehr eilig. Im Gegenteil, es ging mir alles zu schnell. Ich brauchte viel mehr Zeit - so kam es mir vor -, um mich auf die Begegnung mit dir und Maman vorzubereiten. Beim Italiener trank ich einen Kaffee. Das hätte ich nicht für möglich gehalten: daß ich nach all den Jahren des angehaltenen Atems und der Einsamkeit über eine Stunde zögern würde, bis ich in die Limastraße einbog. Der Name des Lokals war jetzt ein anderer, auch die Kellner waren andere. Sonst kaum eine Veränderung. Der Platz insgesamt sah unverändert aus. Darüber erschrak ich: Es war, als würden die Jahre in Chile in einem einzigen Augenblick (demjenigen des Bemerkens, daß sich nichts verändert hatte) zusammengestaucht und würde mein Leben dort in diesem schlagartigen Zusammenrutschen der Zeit vernichtet, entwertet zu einer erfundenen Erinnerung. Jetzt bedauerte ich, kein Foto von Paco und vielleicht Mercedes dabeizuhaben. Ich sah die beiden Bilder vor mir, die ich in die Brieftasche geschoben hatte, nur um sie fünf Minuten später wieder herauszunehmen.
    Vielleicht blieb ich auch deshalb so lange sitzen, weil gegen meinen Widerstand noch eine andere verwirrende Empfindung an die Oberfläche drängte: die Befürchtung, nun doch nicht mehr derselbe zu sein wie derjenige, der damals floh. Das klingt sonderbar, geradezu lächerlich, wenn man es so liest: Natürlich nicht, möchte man sagen, natürlich verändern einen sechs Jahre. Doch für mich war es anders gewesen: Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich als einen gesehen und gespürt, der erstarrt und reglos auf den fernen, den imaginären Zeitpunkt wartete, wo er im wiedergefundenen Gleichklang mit dir würde weiterleben und sich entwickeln können. All die offenkundigen Veränderungen, die sich in Santiago vollzogen, galten nicht, betrafen nur Nebensächliches und ließen den Kern unangetastet. An dieses Gefühl hatte ich mich gewöhnt, es war wie ein stetiger Hintergrundton jener Jahre gewesen, ein Ton so stetig, daß ich ihn gar nicht mehr gehört hatte und seiner erst jetzt, da er auszusetzen schien, im nachhinein gewahr wurde. Doch jetzt, als mein Blick auf den Mexikoplatz hinausging, über dem es zu dämmern begann, war ich mir dieser Dinge nicht mehr sicher. Das gibt es vielleicht gar nicht, dachte ich, daß einer so viele Jahre wartend durchlebt und dabei im innersten Inneren unverändert bleibt. Daß ich dir wenige Schritte von hier unverändert begegnen würde - das kam mir in jenem Moment wie eine verzweifelte Illusion vor, an die ich mich in der Ferne geklammert hatte und die

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