Der kleine Fluechtling
auszufragen), entdeckte sie seinen Namen in der Zeitung.
Gott hatte für Wolli das Große Amen gesprochen. Für ihn und für Minna.
Wolli war frühmorgens auf dem Weg zur Kaserne gewesen. Noch stockbetrunken von einer wüsten Silvesterfeier bei einem seiner Kommisskumpel im Freisinger Stadtteil Neustift, hatte er die scharfe Kurve hinterm dortigen Bahnhof viel zu schnell genommen und war frontal mit Minnas Kleinwagen zusammengestoßen, den sie in Richtung Dom lenkte, um dort am Neujahrstag die Frühmesse zu besuchen.
8
Ulrich und Gerda waren bereits am Stephanitag abgereist, weshalb Ulrich die Todesanzeige, in der als Vorname des Verstorbenen »Wolli« angegeben war, nicht zu Gesicht bekam. Hätte er sie gelesen, wäre ihm wohl ein Licht aufgegangen. Sicherlich hätte er daraufhin an der Beerdigung teilgenommen, während der er dahintergekommen wäre, dass der Adoptivsohn von Gerdas Onkel und der Kommisskopf aus dem Mitterwallner ein und dieselbe Person waren. Insoweit aufmerksam geworden, hätte Ulrich vielleicht begonnen nachzuforschen und wäre dabei sicherlich auf weitere recht interessante Zusammenhänge gestoßen. Womöglich hätte sich die Spur nach Waldhäuser aufgetan und alles ans Licht gebracht. Daraufhin hätte er sich vielleicht sogar gezwungen gesehen, alles offenzulegen, denn sollte es der Zufall wollen, dass sich Renates Tochter und Carmens Sohn später einmal über den Weg liefen und Gefallen aneinander fanden …
Würde es je ein Ende nehmen?
Jedenfalls nicht durch das Eingreifen Ulrichs. Der experimentierte bereits wieder mit Fallschirmen herum und hatte Niederbayern unter »später mal wieder hervorzukramende Erinnerungen« abgelegt.
Wollis Beerdigung stellte Gerhards Hochzeit mit Renate weit in den Schatten. Eine erkleckliche Anzahl Bürger und Honoratioren fand sich ein, weil man sich Max verpflichtet fühlte, und Wollis Kameraden aus der Kaserne erschienen geschlossen, weil sie ein Befehl dazu zwang. Das Kirchenschiff füllte sich bis zum Bersten, auf dem Friedhof war kein Durchkommen mehr.
Als Gerhard mit Renate vor den Altar trat, waren gerade mal fünf Reihen Betstühle besetzt. Man hatte jegliches Interesse an ihm verloren. Als Ehemann respektive Schwiegersohn würde er nun endgültig nicht mehr zur Disposition stehen, und mit der Wahl seiner Braut hatte er sich in der guten Gesellschaft unmöglich gemacht (ein Bankert mit einem Balg am Hals!). Man schwankte zwischen verächtlichem Abwinken und mitleidigem Schulterzucken.
»Das wird heut ein Gedränge geben«, hatte Liesl ganz aufgeregt gesagt, als sich die Hochzeitsgesellschaft auf den Weg zur Kirche machte. »Wer will es sich schon entgehen lassen, wenn der Chef der Keisling Brauerei heiratet.« Ja, auch Onkel Keisling war verstorben, Gerhard hatte im Betrieb nun alles allein zu schultern, und selbst wenn er gewollt hätte, wäre keine Zeit mehr dafür gewesen, einmal nach dem Saxophon zu greifen.
»Keine Sau wird sich wegen derer Hochzeit hinterm Ofen hervorlocken lassen«, hatte Anna hinter vorgehaltener Hand zu ihrem Mann gesagt und recht behalten. Es war aber auch ein ausgesprochen nasskalter Tag.
Exakt an jenem nasskalten Tag hatten Carmen und Didi die Nachbarsfamilie zu einem Kaffeeklatsch in ihr Häuschen eingeladen. Das junge Paar von nebenan besaß eine niedliche knapp vierjährige Tochter, weshalb Carmen und Didi meinten, eine Annäherung wäre wünschenswert, damit ihr inzwischen gut dreijähriger Poldi eine Spielgefährtin habe.
Es versprach, ein vergnüglicher Nachmittag zu werden. Die Erwachsenen unterhielten sich bestens; die Kleinen tollten herum, wurden leiser, fingen wieder an zu tollen.
Die Stille hatte wohl schon ziemlich lange gedauert, bevor sie den Erwachsenen auffiel. Sie erhoben sich – noch lächelnd – aus ihren Polsterstühlen und eilten ins Kinderzimmer, um nachzusehen, womit sich die Kleinen so konzentriert beschäftigten.
Poldi hatte Bienchen schier gänzlich mit dem Band umwickelt, das Didi zum Abkleben von Fenster- und Türrahmen benützt hatte, als er letzthin das Gästezimmer lindgrün strich, und war soeben dabei, mit einem Malstift Bienchens untere Körperöffnungen zu sondieren.
Nein, es würde nie aufhören.
Was auch immer dieser Tage in Deggendorf und Umgebung mehr oder minder hohe Wellen schlug, focht Gerda und Ulrich kein bisschen mehr an. Sie hatten in Braunschweig eine vorübergehende Heimat gefunden, die ihnen sehr behagte.
»Was wohl aus Bulli und Sabe geworden ist«,
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