Der kleine Fluechtling
Direktor teilte ihr mit, er suche händeringend nach einer Sekretärin, die auf der Stelle den Dienst antreten könne, weil seine langjährige Bürokraft aus heiterem Himmel schwer erkrankt sei. Minna hatte sich einverstanden erklärt, am Montag, den 28. September, zu einem Vorstellungsgespräch nach Freising zu reisen. Wegen der schlechten Verkehrsanbindung würde sie sehr früh aufbrechen müssen.
»Wie schade«, sagte sie am Sonntagabend zu Didi, »dass du Carmen morgen nicht Gesellschaft leisten kannst. Sie wird sich furchtbar einsam fühlen.«
Da mietete Didi das Zimmer für eine weitere Nacht.
Zeitig am Montagmorgen rief er bei Bekklers an und schützte (in gewisser Weise sogar zutreffend) dringende Familienangelegenheiten vor, die ihn daran hinderten, an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen. Dann frühstückte er mit Carmen in der Gaststube.
Abends kehrte Minna mit der Nachricht zurück, dass sie den Posten in Freising in zirka zwei Wochen antreten würde.
»Kind«, sagte sie zu Carmen, »man kann doch nicht von uns verlangen, dass wir in der Turnhalle campieren, nur damit der Direktor nicht selbst ans Telefon gehen muss.« (So ähnlich hatte sie auch dem Schulleiter gegenüber argumentiert und damit den Aufschub durchgesetzt.)
Als Nächstes pflückte Minna die »Freisinger Tageszeitung« und das »Freisinger Wochenblatt« aus ihrer Handtasche und blätterte zum Wohnungsmarkt.
Didi verabschiedete sich sichtlich erregt.
Am Wochenende darauf kam er zurück und machte Carmen einen Heiratsantrag.
Was Didi als Carmens Ehemann zu bieten haben würde, verschlug Minna die Sprache.
Er konnte mit der Aussicht auf eine Stelle als Abteilungsleiter bei Hirmer in München aufwarten, mit einem Kleinwagen (die Vespa war dafür in andere Hände übergegangen) und mit einem ererbten Anwesen in Neufahrn (auf halber Strecke zwischen München und Freising gelegen), in dem die Handwerker in Didis Auftrag bereits Renovierungsarbeiten durchführten.
Carmen brach in Tränen aus.
»Meine Tochter nimmt deinen Antrag mit Freuden an«, sagte Minna.
6
Letztendlich wurde Ulrich die Entscheidung darüber, ob er noch Wochen, Monate oder gar Jahre im Konstruktionsbüro der Deggendorfer Werft ausharren sollte, mehr oder weniger aus der Hand genommen.
Bei einer der regelmäßigen Kontroversen zwischen seinen Vorgesetzten kam es zu Handgreiflichkeiten, in deren Verlauf der Ingenieur einen Kinnhaken einstecken musste, den er erzürnt bei den Behörden anzeigte, ohne zu bedenken, dass der Staatsanwalt und der Beschuldigte Brüder waren.
Nachdem dem Diplom-Ingenieur die Abweisung seiner Klage zugestellt worden war, hatte er offenbar genug von seinem Posten bei der Werft.
»Für gute Leute winkt anderswo besserer Lohn!«, brüllte er und räumte seinen Schreibtisch.
Unbestritten, dachte Ulrich und reichte eine Woche Urlaub ein.
Am Montag, den 5. Oktober 1964, stellte er sich im Personalbüro der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt in Braunschweig vor und hielt nach kurzer Wartezeit eine Zusage für die erhoffte Stelle in Händen.
»Das andere wird sich zeigen«, murmelte Ulrich und sah sich nach einer Bleibe um.
Am Samstag nach Geschäftsschluss passte er Gerda beim Modehaus Bekkler ab.
»Eigentlich hatte ich Pilot werden wollen – früher mal«, begann Ulrich, als sie den Fußmarsch nach Neuhausen antraten.
Weil ihn Gerda verdutzt ansah, erklärte er: »Mein Vater hätte es aber bestimmt nicht zugelassen.« Verlegen fügte er nach einer Pause hinzu: »Und die Vorgaben für die Körpergröße von Flugkapitänen wohl auch nicht.«
Gerda nickte verständnisvoll. Piloten hatten stattlich zu sein.
»Aber Flugzeuge faszinieren mich noch immer«, sprach Ulrich weiter. »Als Kinder haben Anton und ich oft Modelle gebaut.«
»Und was habt ihr damit gemacht?«, fragte Gerda.
Ulrich lachte. »Verscherbelt gegen Kekse und Lakritz.« Dann wurde er wieder ernst und berichtete ihr, dass er sich bei der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt in Braunschweig beworben hatte und angenommen worden war.
Mit gemischten Gefühlen registrierte er, dass Gerda hart schluckte.
»Hört sich nach einem großartigen Unternehmen an«, sagte sie mit gepresster Stimme.
Ulrich musste wieder lachen. »Von außen sieht der Laden aus wie ein Misthaufen mit Landebahn.«
»Du wirst mir abgehn«, sagte Gerda.
Ulrich, der ihr gerade hatte erzählen wollen, dass er bei der DFL eventuell den Flugschein für Sportflieger machen könne, schwieg
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