Der kleine Fluechtling
still.
Du musst sie fragen, befahl er sich. Jetzt musst du sie fragen.
Aber was genau musste er sie fragen?
Ein-, zweimal setzte er an und gab dann wieder auf.
Nach einer Weile sagte Gerda: »›Deutsche Forschungsanstalt für Luftfahrt‹ hast du den Betrieb genannt. Nach was forschen die denn da genau?«
Ulrich schreckte auf und begann zu stammeln: »Grundlagenforschung an Fallschirmen, Gewebeuntersuchungen, Umströmung der einzelnen Fäden, Luftwiderstand, klassisches Geflecht …«
Gerda sah ihn irritiert an. Da holte Ulrich Atem und stieß hervor: »In Braunschweig gibt es einen riesigen Kaufhof mit Konfektion auf drei Etagen – und mit Rolltreppe.«
7
Ulrich hatte sich im ländlichen Umfeld Braunschweigs ein billiges Zimmer bei einem alten Ehepaar gemietet und am 1. Januar 1966 seine neue Stelle angetreten. Von nun an brachte der Briefträger jede Woche Post aus Braunschweig in die Villa Katherina.
»Hier im Dorf«, schrieb Ulrich im Februar, »sind die Leute genau so, wie man sie aus den Geschichten von Wilhelm Busch kennt. Es gibt die Witwe Bolte, den Lehrer Lämpel und natürlich die fromme Helene.«
»Der Misthaufen mit Landebahn hält tatsächlich, was er versprochen hat«, stand in einem Brief, der Gerda im Mai erreichte. »Ich kann inzwischen eine Cessna fliegen, und mein täglich Brot ist es, Fallschirme zu testen, zu testen und wieder zu testen.«
An Pfingsten kam Ulrich selbst. Er hatte Urlaub bekommen und würde eine ganze Woche lang in Deggendorf bleiben können.
Gerda stattete sich wohlweislich mit einer Bundhose und Wanderschuhen aus – und sie tat gut daran. Am Pfingstsonntag liefen sie donauaufwärts bis Mariaposching, am Montag landeinwärts bis zum Schloss Egg. Am Dienstag (Gerda hatte ebenfalls Urlaub genommen) wanderten sie nach Offenberg, am Mittwoch nach Kloster Metten. Und auf jeder Strecke erzählte Ulrich von Braunschweig – von der DFL , vom Braunschweiger Umland, hauptsächlich aber von der Innenstadt, den Warenhäusern und Modeboutiquen, die er sich gründlich angesehen hatte.
Nachdem er abgereist war, kamen wieder Briefe und zwischendurch Ansichtskarten: der Hagenmarkt, der Bürgerpark, der Altstadtmarkt, das Gewandhaus. Ulrich selbst kehrte im September zurück, blieb erneut eine Woche, und als er wieder in den Zug Richtung Niedersachsen stieg, hatte er Gerdas Versprechen, demnächst von den Ufern der Donau an die Ufer der Oker zu ziehen.
»Wann kommst du?«, fragte er schriftlich im Oktober.
»Komm doch«, bat er in der ersten Novemberwoche.
»Bitte«, flehte er in der zweiten.
»Habe Drei-Zimmer-Wohnung in der Stadt gemietet«, teilte er in der dritten Novemberwoche mit.
»Kaufhof sucht dringend Verkäuferin«, schrieb er am ersten Advent. »Wohnungsinhaber sucht Mitbewohnerin«, am zweiten Advent. »Ingenieur sucht dringend Gefährtin«, am dritten.
Gerda traf noch vor Weihnachten ein.
In der Villa Katherina schrie Anna Langmoser Zeter und Mordio. »Wie kommt sie bloß dazu, ihre gute Stellung im Modehaus Bekkler aufzugeben? Für einen Böhmack, einen Hungerleider von Flüchtling?« Und zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß sie hervor: »Heimkommen braucht die mir nimmer, mit einem ledigen Kind schon gar nicht.«
Womöglich war es Anna Langmoser im Augenblick durchaus ernst damit, aber allzu lange hielt ihre Wut nicht an. Sie wich bald der Sorge.
»Wie es dem Kind wohl gehen wird?«, fragte sie ihren Mann. Der zuckte bloß die Schultern.
Endlich kamen Lebenszeichen aus Braunschweig. »Es geht uns gut.«
»Uns«, mäkelte Anna.
»Wir haben hier in Braunschweig schon viele Freunde gefunden.«
Anna zog ein Gesicht. »Wir.«
»Die Arbeit in der Konfektionsabteilung bei Kaufhof macht mir großen Spaß.«
»Kaufhof«, murrte Anna, »hört sich an wie ›Großmarkthalle‹.«
So verging ein ganzes Jahr.
Im Advent 1967 schrieb Gerda: »Ulrich und ich würden gern an Weihnachten für ein paar Tage zu Besuch nach Hause kommen.«
»Das freut mich«, schrieb Anna zurück.
Anna freute sich wirklich, ihre Tochter in die Arme zu schließen. Beruhigt registrierte sie, dass sich Gerdas Bauch flach anfühlte.
»Wo is er denn?«, fragte sie nach einer Weile.
Als Gerda antwortete, Ulrich würde während ihres Aufenthaltes in Deggendorf bei seinen Eltern wohnen, versuchte Anna, sich die Erleichterung darüber nicht anmerken zu lassen.
»Morgen is Sonntag«, sagte sie. »Solln wir am Nachmittag auf den Himmelberghof gehen, zum Kaffee?«
Gerda lächelte.
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