Der kleine Fluechtling
murmelte Ulrich eines Abends, als er mit Gerda in einem Jazzkeller saß, wo er schon eine ganze Zeit lang den Drummer beobachtete. Schmunzelnd gab er sich selbst die Antwort: »Bulli wird sich wohl endgültig im Weißbräu festgesaugt haben. Aber der Sabe hat sich womöglich eine Familie zugelegt – falls es irgendwo eine zu klauen gab.«
Gerda nahm seine Hand. »Manchmal kommt man schneller zu einer richtigen Familie, als man denkt – oder geplant hat.«
»Rasend schnell«, stimmte ihr Ulrich zu. »Gerhard muss jetzt schon zwei Kinder haben.«
Gerda seufzte. Manchmal verstand sie wirklich nicht, warum Ulrich von seinen Freunden Gripskopf genannt wurde.
Jutta Mehler
SAURE MILCH
Niederbayern Krimi
ISBN 978-3-86358-197-0
»Jutta Mehler hat einen Volltreffer gelandet. Aus dem Leben gegriffen, bisweilen schreiben komisch sind ihre Beobachtungen und Detailschilderungen.«
Deggendorfer Zeitung
Leseprobe zu Jutta Mehler,
SAURE MILCH
:
1.
Fanni war einzig und allein selbst schuld daran, dass ausgerechnet sie die Leiche finden musste.
Dabei lag die Tote auf dem Grundstück des Nachbarn, jedenfalls zum größten Teil.
Fanni war selbst schuld, weil sie diesen Mülltrennungstick hatte. Jedes Döschen, jedes Fläschchen musste irgendeiner grotesken Wiederverwertung zugeführt werden.
An diesem unglückseligen Vormittag ging Fanni mit einer Handvoll Zwiebelschalen zum Komposthaufen hinter ihrem Haus. Auf dem Rückweg sah sie es rosafarben aus den Johannisbeerstauden leuchten. »Aha, sie färben sich schon«, freute sie sich, »früh dran heuer.«
Sie war schon fast an der Haustür, als ihr einfiel, dass Johannisbeeren in keinem Reifestadium ein derart künstliches Pink annehmen.
Fanni ging zu den Stauden zurück, und das war falsch.
Sie linste durch die Blätter und Zweige auf den rosa Fleck. Dermaßen zudringlich angestarrt löste sich der Fleck in viele kleine Pixel auf und setzte sich dann zu einem Muster überkreuzter rosa Bänder wieder zusammen.
Fanni blinzelte: Das Gesamtbild ergab eine Sandale, eine, die sie kannte. Im ganzen Ort zerriss man sich seit Wochen das Maul über sie.
Die Sandale gehörte zu Mirza Klein.
Mirza war Bäuerin, allerdings noch nicht lange. Sie hatte vor einem knappen Jahr auf den Hof oberhalb von Fannis Häuschen eingeheiratet. Sie kam aus Tschechien – direkt vom Straßenstrich. Das wussten alle hier in Erlenweiler.
Seit dem Tag, an dem Mirza mit Benedikt Klein vom Standesamt zurückgekommen war, hatte das Gerede über sie, je nach aktuellem Anlass, mehr oder minder hohe Wellen geschlagen.
»Eine Bäuerin mit Stöckelpantolette und lila Zehennägel im Stall bei den Rindviechern«, so und ähnlich konnte man es im vergangenen August mäkeln hören, die ganze Erlenweiler Straße hinauf und hinunter. Das heftige Getuschel verwehte über den Winter, begann aber Anfang Mai von Neuem, und das Echo hallte den halben Juni wider.
»Lila Zehennägel.« Fanni blinzelte noch mal. Richtig, da waren sie, unverkennbar.
Es war zu spät für Fanni, ungeschoren durch ihre Haustür zu verschwinden, Fund und Erkenntnis abzustreiten.
Sie bog ein paar Ästchen zur Seite, sog scharf die Luft ein und ließ ihren Blick entlang den Sandalenriemchen aufwärts wandern.
Fanni identifizierte gelborangefarbene Plastikblüten, glänzend wie Glas, weidlich bekannt bis hin zu den hellgelben Splittern im Blütenkörbchen.
Das Riemchen-Blütengewirr endete in einer Metallschließe über Mirzas Knöchel.
Es gab kein Zurück. Fannis Blick fand Mirzas Knie und etwas weiter oben den Saum des roten Minirocks.
Fanni stoppte beim schwarzen Lackgürtel: Und wenn sie doch einfach durch die Tür …? Sollte doch ein anderer finden, was Fanni schreckte.
Bis jetzt hatte sie niemanden hier draußen gesehen. Gewissermaßen war sie gar nicht aus dem Haus gekommen an diesem Morgen.
Und überhaupt, Mirzas Knie hingen einträchtig angewinkelt über dem Grenzmäuerchen. Der Minirock leuchtete wie eine Mohnblüte aus dem Rasen der flachen Böschung, die ins benachbarte Grundstück überleitete. Mehr als zwei Drittel von Mirza lagen demnach im Nachbargarten.
Eben, was ging Fanni der Garten ihrer Nachbarn an? Sollte doch Frau Praml Polizei und Ambulanz … Fanni stockte. »Notarzt, meine Güte.« Ihr Blick schoss von Mirzas Taille zu Mirzas Kopf und blieb in einer Blutlache stecken.
Mirzas Gesicht konnte Fanni nicht sehen, es war zwischen den rotbraun gefärbten Grashalmen verborgen. Insgesamt sah Mirza tot aus.
Also
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