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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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bereits ausholen. Doch bevor der Tischler zutreten konnte, stoppte ihn ein sonderbarer Gedanke: Wieso kommt dieser Halunke zurück nach Habendorf, wo alle wissen, was er auf dem Kerbholz hat?
    Scheller setzte den Stiefel wieder auf die Erde.
    Dem ist gerade aufgegangen, sagte sich Wollis Erzeuger, dass es unklug wäre, ein Schwein zu schlachten, bevor es geferkelt hat.
    Das war seine Chance. Er war weit herumgekommen, er konnte dem Tischler berichten, was am kollektiven Wissen der Habendorfer vorbeigeflossen war.
    Und es fiel auf fruchtbaren Boden. Scheller war einen Schritt beiseitegetreten, hatte sich neben das schlafende Sägeblatt gehockt – und hörte schweigend zu.
    Wollis Erzeuger entging keineswegs, dass Scheller die Worte, die aus ihm hervorsprudelten, zwar aufmerksam in sich aufnahm, seine Miene dabei jedoch nicht ein Fünkchen nachsichtiger wurde.
    Hinhalten, dachte Wollis Erzeuger. Hinhalten den Kerl, und er hörte nicht auf zu reden.
    Ebenso wenig wie einer von den anderen Habendorfern hatte Wollis Erzeuger jemals einen waffenstarrenden, siegestrunkenen, marodierenden Russen zu Gesicht bekommen. Aber er hatte Gefangene gesehen – nicht nur jüdische. Er wusste, wie es in deutschen Lagern zuging. Selbst wenn sich der siegreiche Russe auf ein »Wie du mir, so ich dir« beschränken sollte, dann trotzdem: Gute Nacht.
    Während Wollis Erzeuger erzählte, konnte er beobachten, wie dem Tischler von Minute zu Minute deutlicher aufging, dass er keine Zeit mehr zu vertrödeln hatte.
    Die Flucht ergreifen, Reißaus nehmen, aufbrechen, abmarschieren , pochte es sichtbar in Schellers Schädel.
    Das Grauen, das Wollis Erzeuger in Scheller heraufbeschworen hatte, musste seine eigenen Verfehlungen auf ein kaum wahrnehmbares Maß zusammenschrumpfen lassen. Aber selbst wenn nicht, müsste Scheller vernünftigerweise annehmen, dass Wollis Erzeuger seine Rechnung schon präsentiert bekommen würde. Entweder von den Kumpanen unter dem Totenkopfbanner, die jedem Deserteur Gewehrsalven in die Brust jagten, oder vom russischen Erzfeind, der genau wusste, was sich hinter einer gewissen Tätowierung verbarg. So oder so war Wollis Erzeuger erledigt. Er würde sterben. Sogar wenn er versuchen sollte, seine Achselhöhle in Ätznatron zu baden, wenn es ihm gelänge, das eintätowierte »A« mit Schellers Hobelmesser wegzuschaben, wäre er mit einer Wunde an jener verdächtigen Stelle noch deutlich genug gezeichnet. Scheller konnte ihn also getrost der Vorsehung überlassen und eilig darangehen, sich um das Geschick seiner Familie zu kümmern.
    Letzteres würde Scheller auch tun. Aber Wollis Erzeuger wurde langsam klar, dass er sich vorher noch die Zeit nehmen würde, ihn fertigzumachen, und keine Worte der Welt würden ihn vor Schellers Stiefeltritten retten. Wollis Erzeuger spannte die Muskeln an, und als sich der Tischler erhob, schnellte er hoch. Er kam auf die Füße, griff nach der Feile, die Scheller zum Schleifen des Sägeblattes benutzte, und stach zu. Wollis Erzeuger war bereits aus der Tür, als der Tischler auf dem Boden aufschlug.

4
    Am Stephanstag traf Ulrich auf Höhe der Tischlerwerkstatt mit seinem Großvater zusammen, der ihm vom Dominium her entgegenkam. Er zog einen Handkarren, auf dem sich eine Zinkwanne voll rosiger Schweineteile befand. Ulrich betrachtete sie so verwundert, dass der Großvater zu der Erklärung ansetzte, er habe die fettere der zwei Säue abgestochen, die seit Langem schon in den Koben des Dominium grunzten.
    Der Großvater berichtete weiter, dass er die Tat gesetzwidrig und in diebischer Absicht ausgeführt habe. »Mecht der Baron doch rufen, so viel er will, wenn er das überhaupt noch kann.«
    Großvater Scheller, erfuhr Ulrich außerdem, hatte sich die Schweinestücke als Zahlungsmittel gedacht. »Een Stickel vom Schwein steht heutzutage höher im Kurs als wie Diamanten und Rubine.«
    Ulrich nickte verständig und ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Dabei hätte er beinahe nicht mitbekommen, was der Großvater als Nächstes sagte.
    »Die Junkers F 13!«, rief er, als es ihm bewusst geworden war. »Werd ich doch die Junkers mitnehmen wollen.« Er riss die Tür zur Tischlerwerkstatt auf, stürmte hinein und angelte das Flugzeugmodell (das Wolli Wänig den Scheller-Jungen noch nicht abspenstig hatte machen können) vom Wandbord.
    Ulrich und sein Großvater kamen gerade rechtzeitig, um den Rest der Familie auf den Militärlaster klettern zu sehen, der die Flüchtlinge zum Bahnhof nach

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