Der kleine Fluechtling
Ulrich erwog ernsthaft, ob man eventuell für immer bleiben sollte.
Aber das nahende Unheil kündigte sich schier stündlich eindringlicher an. Wer noch unversehrte Beine hatte, kam aus östlicher Richtung angerannt und flüchtete, ohne in Szachow zu verschnaufen, schleunigst weiter auf die westliche Hemisphäre zu. Wer sich noch Zeit zum Reden nahm, berichtete von Gräueln, die ihm auf den Fersen folgten.
Als sich Anfang März 1945 das Bellen der Geschütze anhörte, als sei die Flak im Hinterzimmer stationiert, hieß Vater Scheller seine Söhne eines Morgens rupfene Säcke schultern und deutete dorthin, wo am Abend zuvor die Sonne untergegangen war. Mutter Scheller hatte sich Klein-Hilde auf den Rücken gebunden und trug einen Stoffbeutel in der Hand.
Über gefrorene Äcker stapften die Schellers nach Westen; »Bayern«, flüsterten Vater und Mutter.
Mecht es sich zeigen, dachte Ulrich, das nächste Anderswo, das sich Bayern nennt.
Teil II
1
Klein-Gerti schlief in ihrer geschnitzten Wiege mitten in der Wohnstube eines hübschen Hauses in Münzhausen, einem Nest im österreichischen Sauwald. Eigentlich gehörte Gerda Langmoser samt ihrer Wiege dort gar nicht hin. Sie war von auswärts gekommen – als Flüchtling.
An einem tristen Herbsttag 1944 hatte Anna mit der zu diesem Zeitpunkt noch ungeborenen Gerda den heimischen Hof nahe dem niederbayerischen Ufer der Donau verlassen müssen. Doch weder alliierte Feindseligkeiten (gegen die inzwischen nicht mehr so aufrechten Deutschen) noch Repressalien der Reichsregierung hatten sie aus ihrem Heim vertrieben, sondern einzig und allein Klein-Gertis stetiges Wachsen in ihrem bekömmlichen Fruchtwasserbad. Bevor jenes Wachstum ruchbar werden konnte, hatte Anna einen Koffer voll Wäsche gepackt und war zu ihrer Schwester Helga ins Österreichische gereist, wo ihr die Neuhausener nicht mehr auf den Bauch schauen konnten.
Die Münzhausener schauten ihr zwar auch auf den Bauch, aber denen konnte Anna etwas vormachen. Trotzdem wäre Gerda beinahe als Bankert auf die Welt gekommen (amtliche Stellen ließen sich nicht so leicht täuschen), gerade mal fünf kurze Wochen bewahrten sie davor.
Wie knapp auch immer, seit ihrer Geburt wurde Gerda im Familienregister als legitimes Kind geführt, und das war den beiden Urlaubstagen Anfang Januar ’45 zu verdanken, die Gerdas Vater beim Oberkommando herausschlagen konnte, als Anna schon auf den neunten Schwangerschaftsmonat zuging.
Für die Hochzeitsfeier hatte Anna einiges darangesetzt, den eindeutigen Beweis für Klein-Gertis baldige Ankunft zu übertünchen. Über ihrem Bauch rüschte und bauschte sich ein reich geblümtes Kleid. Konspirativ zusammenarbeitend hatten Anna und ihre Schwester Helga den Stoff gefältelt, gerafft und mit ausreichend Zipfeln von einem Fuchspelz so verbrämt, dass die Wölbung, die Klein-Gerti verursachte, kaum jemandem ins Auge fiel.
Anna konnte es sogar wagen, ein Hochzeitsfoto nach Neuhausen zu schicken. Auf dem Bild verbarg ein riesiges Brautbukett die Sicht auf eventuell verräterisches Plissee über Annas Bauch. Das Arrangement, bestehend aus fünf rosa Nelken vom Treibhaus, die wie winzige Sterne aus einer Wolke von Asparagus hervorlugten, war gut und gern dazu geeignet, Drillinge zu verbergen.
Anna behauptete fortan, sie wäre bei der Hochzeit allerhöchstens – wenn überhaupt – im dritten Monat gewesen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wann ihr Mann das letzte Mal Heimaturlaub hatte. Diese Beschönigung der Verhältnisse zwang sie, künftig auch im Freundes- und Verwandtenkreis fingierte Daten zur Verehelichung anzugeben. Die tatsächlichen waren zwar festgeschrieben, aber wer würde schon beim Standesamt nachfragen? Als fatal erwies sich nur, dass sich Anna nicht merken konnte, welches Hochzeitsdatum sie diesem oder jenem genannt hatte. Aber all das spielte keine wirklich wichtige Rolle. Entscheidend war, dass sich Anna rechtzeitig in die ehrbare Frau Langmoser verwandelt hatte, was Gerda zu einer rechtschaffenen Bäckerstochter machte. Den Beweis dafür lieferte der Standesbeamte mit Unterschrift und Siegel und mit den Unterschriften der Trauzeugen.
Annas Angetrauter Sepp eilte indessen an die Front zurück, an der es umso brenzliger wurde, je flinker sie sich auflöste. Vor der Abreise hatte er Anna sein Wort gegeben, bei der nächsten Heimkehr Gerdas Wiege dorthin zu schaffen, wo sie eigentlich stehen sollte, nämlich in den Flecken Neuhausen, der exakt in der Mitte zwischen
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