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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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unter der Presswalze hervorkrochen. Er schluckte aufsteigende Tränen hinunter und tadelte sich, das Modellflugzeug nicht Wolli überlassen zu haben. Wer nach Anderswo aufbrach, der sollte wirklich an nichts festhalten wollen.
    »Dä Zuch, dä Zuch …« Das Murmeln schwoll zu einem Brausen an.
    Zwei Tage waren seit Ankunft der Schellers in der Turnhalle des Glatzer Schulgebäudes vergangen. Eilig rafften sie ihr verbliebenes Hab und Gut zusammen, und abermals kraxelte Ulrich auf eine Ladefläche. Diesmal gehörte sie zu einem Güterwaggon.
    Schon bald schwankte die letzte Glatzer Häuserzeile außer Sicht. Und dann sah die Gegend wieder aus wie jene um Habendorf: Bäume, Büsche, Schotterstraße – nein, falsch, Schienenweg mit Schotter zwischen den Gleisen.
    Ulrich verkeilte sich zwischen Koffern, Kisten und Körben, ließ kahle Bäume vorbeiziehen, marode Telegrafenmasten und ab und zu ein ödes Dorf – den ganzen Tag lang und die halbe Nacht.
    »Endstation!«
    »Sollte die Güterbahn nicht bis Pilsen fahren?«, erhoben sich empörte Stimmen. Das Dorf, in dem der Zug angehalten hatte, nannte sich Szachow.
    »Es ist nicht mehr weit bis dorthin. Fünf, sechs Kilometer höchstens. Der Zug bleibt hier stehen. Alle müssen aussteigen«, kam von irgendwoher die Antwort.
    Bei Tagesanbruch begannen die Flüchtlinge auszuschwärmen, und binnen Kurzem zog eine ganze Karawane auf der Straße nach Pilsen dahin. Nur die Schellers standen noch unschlüssig bei den Gleisen, ließen die Blicke über schneeverkrustete Wiesen schweifen, über Hügel, die die Straße nach Pilsen verschluckten, und über die armseligen Gerätschaften vor einem schindelgedeckten Bauernhaus, dessen Tür sich auf einmal öffnete.
    Ein Mann stürzte heraus und sah sich um, als wüsste er nicht, wo er sich befand. Vater Scheller trat auf ihn zu, Ulrich folgte in bedachtem Abstand.
    Er verstand kein Wort von dem, was sein Vater mit dem tschechischen Bauern radebrechte, aber bald nachdem der die ganze Familie ins Haus gewinkt hatte, ging Ulrich auf, dass die Schellers zur rechten Zeit am rechten Ort angekommen waren. Die Bäuerin schien soeben verstorben zu sein, und Tote benötigten einen Sarg. Das wiederum bedeutete Lohn und Brot für die Schellers.
    Im Hinterzimmer lag die Bäuerin auf dem Totenbett.
    Ein altes, verschrumpeltes Weiblein hockte daneben und murmelte Sätze, die eindeutig deutsch klangen. Als Ulrich schärfer hinhörte, verstand er Fragmente wie »Gottes Güte nehme ihre Seele … lohne reichlich ihre Mühen … gebe ihr die ewige Ruhe …«.
    Die Schellers begannen, sich nützlich zu machen. Ulrich und Anton halfen ihrem Vater, im Schuppen trockene Bretter für den Sarg zusammenzusuchen. Mutter Scheller hatte Klein-Hilde in der Wohnstube auf ein Kissen gebettet und war bereits damit beschäftigt, Kartoffeln zu schälen.
    »Hätt mer’s en scheenes Stickl ibler treffen können«, sagte Mutter Scheller in den folgenden zwei Monaten ein ums andere Mal, und Ulrich musste ihr stets aus vollem Herzen zustimmen.
    Der tschechische Bauer hatte Familie Scheller, die ihm am Todestag seiner Frau so tatkräftig beigestanden hatte, genügend Wohnraum in seinem Haus abgetreten und ließ Mutter Scheller schalten und walten. Sie fegte und wischte, rührte Butter, dämpfte Rüben, buk Weizenfladen und kochte große Kessel voll nahrhaften Eintopfs, in dem selten die Fleischstücke fehlten. Die Rüben und das Getreide stammten von den Äckern, von denen der Bauer mehr besaß, als sämtliche Habendorfer zusammen je besessen hatten. Die Milch stammte von den Kühen, die kerngesund im Stall standen, und das Fleisch, das stammte aus dem Wald, den der Bauer meist in der Dämmerung aufsuchte. Wenn er sich auf den Weg dorthin machte, ragte unter seiner Joppe der Lauf einer Flinte hervor. Vater Scheller tischlerte indessen im Schuppen dies und das für die Bauern aus der Gegend um Szachow, und Ulrich hatte eine Menge Botengänge zu erledigen. Einmal durfte er sogar in die gute Stube eines reichen Bauern in Bolevec treten, wo man ihm eine Waffel mit Schokoladenüberzug schenkte. Dort wäre er gern eine Weile geblieben, denn in der Ecke stand ein Klavier, und auf dem Tisch daneben lag eine Trompete. Aber niemand lud ihn dazu ein, eine Klaviertaste anzuschlagen oder in die Trompete zu blasen. Da trollte er sich wieder.
    Es lebte sich wirklich nicht schlecht in diesem Anderswo, das Böhmen hieß. Und dabei war man bloß eine gute Tagesreise von Habendorf entfernt.

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