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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Glatz brachte. Mutter Scheller hockte bereits auf einem der Flechtkörbe, die ihr Mann auf die Ladefläche gehievt hatte. Sie sah ganz und gar nicht so aus, als hätte sie endlich begriffen, dass sich die Heimat geographisch nach Westen verschob.
    »So viels missn wir zuricklassn«, jammerte sie unter Tränen und Seufzern.
    »Mecht es keen Stuhl, keen Tisch, keen Bottich geben anderswo?«, fragte Ulrich.
    »Mecht es keen Holzbrettchen geben, aus dem man een Fliegermodell basteln kann?«, sagte eine Stimme von hinten.
    Ulrich fuhr herum und sah sich Wolli-Mausgesicht gegenüber. Schnell wandte er sich ab und machte Anstalten, auf den Lastwagen zu klettern. Aber Wolli erwischte ihn am Jackenärmel und hielt ihn fest.
    »Mechst es dalassen, das gut Stück, ich pass drauf auf. Mecht sich keiner hinlangen traun auf den Flieger.«
    Ulrich schüttelte Wollis Hand ab und kraxelte endgültig hinauf. Er war ohnehin der Letzte. Selbst der Vater stand schon oben. Ulrich musterte ihn besorgt. Die Wunde an der Schulter, wo ihn der Kerl, der in die Tischlerei eingebrochen war, mit der Feile getroffen hatte, hatte wieder zu bluten begonnen, und die Beule auf der Stirn musste sich auf Wanderschaft begeben haben, denn sie hatte aus dem linkem Augenlid ein Pölsterchen gemacht. Vater Scheller reichte soeben die kleine Hilde noch einmal hinunter, damit der Großvater ihr zum Abschied übers Köpfchen streicheln konnte.
    Es würde kein Wiedersehen mit ihm geben. Der alte Scheller war fest entschlossen, auf dem Dominium auszuharren, weil er sich für das Gut verantwortlich fühlte wie ein Kapitän für sein Schiff. Er meinte, das verbliebene Schwein, das Hühnervolk, den Obstgarten ebenso wenig im Stich lassen zu können wie den Deutz-Gasölmotor und das Kranrad.
    Nun ließe sich berechtigt fragen, ob diese überspitzte Pflichttreue nicht in krassem Widerspruch zu dem gemeuchelten und sodann veruntreuten Schwein stand; worauf die Antwort eindeutig »Ja« lauten müsste, solange man das Schwein nicht als Kriegsopfer einstufte, wie sie dieser Tage an jeder Ecke zu beklagen waren.
    Klein-Hilde kehrte in die Arme ihrer Mutter zurück. Ulrich stellte seinen Rucksack auf der Ladefläche ab und verstaute die Junkers sorgsam darin. Dann sah er sich nach einem Plätzchen um, von dem aus er während der Fahrt den weitesten Rundblick haben würde. Der Aufbruch schien kurz bevorzustehen, denn das Gefährt begann bereits zu vibrieren.
    Plötzlich machte es einen Satz. Mutter Scheller schrie auf, Klein-Hilde fing an zu weinen. Ulrich landete mit dem Hintern auf dem Rucksack. Da saß er noch, als der Lastwagen langsam an der Wänig-Kate vorbeiholperte. Aus dem Haus drang das Wuchten von Großvater Wänigs Webstuhl.
    Die Wanne mit den Schweinestücken hüpfte auf und ab, Körbe und Taschen schwankten wie Schuhmacher Höhn nach dem Kondolenzbesuch bei Großvater Wänig. Ulrich klammerte sich an die Ladeklappe und zog sich daran hoch. Gespannt schaute er von Osten nach Westen. Was er sah, unterschied sich in nichts von dem, was er bereits kannte: Bäume, Büsche, Schotterstraße. Nun gut, Anderswo lag ja noch weit entfernt.
    Der Glatzer Bahnhof zeigte sich trostlos wie ein abgemähtes Haferfeld.
    »Notquartier im Schulhaus«, rief der Fahrer und ließ sein Vehikel wieder einen Satz machen, bevor es zum Stehen kam.
    Ein ganzer Wald helfender Hände streckte sich den Schellers entgegen. Ulrich schulterte sein Rucksäckchen, das ihm auf einmal merkwürdig flach am Rücken hing, und sprang hinunter. Die Hände beachteten ihn nicht. Sie griffen nach den Körben, den Taschen, der Zinkwanne.
    Mutter Scheller folgte mit Klein-Hilde auf dem Arm ihren Besitztümern in die Turnhalle. Drei Körbe und zwei Taschen warteten in einer Ecke auf sie. Suchend schaute sie sich nach den restlichen Gepäckstücken um. Wo war die Wanne mit den Schweineteilen?
    Ein alter Mann mit weißer Rot-Kreuz-Armbinde schüttelte bedauernd den Kopf. »Nachforschen mecht keen Zweck ham.« Förmlich teilte er den Schellers vier Quarkstullen zu.
    Ulrich trauerte den blutigen Schweinestücken nicht lange nach. Immerhin hatten sie ja ihren Zweck erfüllt und als Bezahlung für Essbares gedient. Er schnallte sein Rucksäckchen ab und wollte es sich eben mit einem Becher Wasser und der Stulle bequem machen, als ihm die veränderte Form seines Gepäckstücks auffiel. Ulrich zog die Verschnürung auf, und da lag sie, die Junkers F 13, flach wie die gequetschten Haferkörner, die auf dem Dominium

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