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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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Raum erfüllte. Der Flügel erkannte, dass sich auf beiden Seiten der Halle über drei Geschosse gewaltige Bogengänge erstreckten, in denen sich die Instrumente aufhielten. Und es steckte ganz offenbar ein System dahinter; sie waren in Gruppen angeordnet wie in einer sorgsam ausgearbeiteten Partitur.
    In der obersten Etage hatten sich zu beiden Seiten mit goldenen Ornamenten verzierte Holzblasinstrumente, die Flöten, Fagotte, Klarinetten und Oboen, versammelt. Ihre Klappen schimmerten hell und spiegelten sich in den glatten Steinwänden des Turms.
    Die mittlere Ebene bevölkerten die Blechbläser: Trompeten, Posaunen und Hörner starrten auf den Flügel hinab. Sie flüsterten, standen aber wie regungslose Wächter blank geputzt in ihren glänzenden Messingkleidern in Reih und Glied.
    Und auf der Ebene der Halle hielt sich die größte Instrumentengruppe auf, die Streicher. Kräftige, gambenförmige Geigen, Bratschen, Celli und Bässe. Jeder solide Korpus aus Ahorn war an der Vorderseite mit verzierten Fichtendecken belegt. Ihre schillernden, mit Intarsien und feinstem italienischem Lack versehenen Oberflächen schimmerten und ließen auch ihre Körper im Licht der vielen Kerzen geheimnisvoll changieren. Der Flügel erkannte sofort: Hier handelte es sich um sehr, sehr wertvolle Instrumente. Das Beste, was es in der fernen Menschenwelt gab, war hier versammelt.
    Dann stutzte er, denn erst jetzt erkannte er, dass neben jedem Streichinstrument ein aus rötlichem Pernambukholz geschnitzter Bogen schwebte. Er war wahrlich in einer sonderbaren Welt gelandet: in einer Welt, die von lebenden und sprechenden Instrumenten bevölkert wurde. Und er war nun eines davon.
    Plötzlich registrierte er, dass sich im hinteren Teil der Halle, der kaum vom Licht der Kerzen erfasst wurde, auch etwas bewegte. Dort hielten sich offenbar noch weitere Instrumente auf, denn er hörte auch von dort Stimmen.
    Es war verwirrend: Alle redeten, aber keiner sprach den Flügel direkt an. Die anderen Instrumente schienen abzuwarten. Irgendetwas würde also passieren.
    Langsam rollte der Flügel weiter. Da donnerte es hinter ihm.
    Erschrocken blickte er hinter sich und sah, dass sich das große Tor wieder von selbst geschlossen hatte und geräuschvoll ins Schloss gefallen war. Jetzt bemerkte er auch, dass der große Mann und die rothaarige Frau verschwunden waren.
    Er stand nun im vorderen Teil in der großen Halle, beäugt von den anderen Instrumenten.
    «Hallo», sagte er zaghaft. Es klang kläglich.
    Niemand antwortete.
    Da endlich löste sich aus der mittleren Ebene eines der Instrumente und beugte sich über das Geländer nach vorn. Es war eine dicke, freundlich aussehende Tuba. Sie sah sich vorsichtig um, blickte dann nach unten und flüsterte: «Flügel, ich weiß, du hast viele Fragen. Es wird Gelegenheit zum Reden geben, aber jetzt ist nicht die Zeit dafür. Theodora, die Erhabene, erwacht. Es kann nicht mehr lange dauern. Bleib einfach da stehen und sei still, ja?»
    Der Flügel nickte, dankbar, dass sich jemand seiner angenommen hatte.
    Die Worte der Tuba klangen noch in ihm nach. «Theodora erwacht.» Wer mochte die Geheimnisvolle sein? Und warum hatten alle solche Angst vor ihr?

    Wie eine Antwort auf diese unausgesprochene Frage begann die Decke der Halle zu vibrieren. Eine gewaltige Kraft schien auf sie einzuwirken, und schließlich entstand in der Mitte der Decke eine Öffnung. Mit lautem Knirschen schoben sich beide Teile der Decke schließlich auseinander und verschwanden in breiten, seitlichen Öffnungen der Wände.
    Und was der Flügel dann sah, ließ jede seiner Holzmembranen, jede seiner Tasten, jedes Stück Metall in ihm erschauern.
    Denn jetzt war auch der gesamte obere Teil des Turmes zu sehen, und der wurde in Gänze von einer gigantischen, metallisch glänzenden Orgel ausgefüllt. Ihre riesigen Pfeifen reckten sich steil wie Speere in die Höhe und verschwanden in der Dunkelheit der oberen Turmebene. Die äußeren Pfeifen waren an den Seiten mit goldenen Verzierungen geschmückt, und in der Mitte des titanischen Instrumentes prangte ein Ornament, das aussah wie ein zu einem grotesken Grinsen verzerrter Mund. Und auch oben auf der mittleren Pfeife war eine sonderbar leuchtende Verzierung in der Form eines Auges zu sehen, das wie das eines Zyklopen auf die unten versammelten Instrumente hinabstarrte. Theodora, die Erhabene, war erwacht.
    Der Flügel schwieg und rührte sich nicht. Auch alle anderen Instrumente waren verstummt.

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