Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
sich dran. Einige von uns können sich schon nichts anderes mehr vorstellen. Man verändert sich mit der Zeit.»
«Aber ihr seid so viele», rief der Flügel. «Warum …»
«Still», zischte da eine Trompete. «Sie kommen.»
Alle schwiegen. Eine Tür öffnete sich, und eine Violine, eine Trompete, eine Oboe und ein Cembalo erschienen in der Halle.
«Das sind die Offiziere der Orgel. Hüte dich vor ihnen», flüsterte die Tuba dem Flügel noch leise ins Ohr.
Die vier «Offiziere» trugen jeder eine besondere Verzierung, ein Abbild des Auges der Theodora. Sie dienten der Überwachung der jeweiligen Instrumenten-Untergruppen. So wollte die Orgel sichergehen, dass keines der Instrumente von dem ihm zugewiesenen musikalischen Weg abweichen konnte, wenn sie schlief.
Die Violine löste sich aus der Gruppe der Offiziere und schwebte auf den Flügel zu. Dicht vor ihm blieb sie in der Luft stehen und sagte mit schneidender Stimme: «Willkommen im Reich der Erhabenen. Ich bin die Guarneri.»
«Die Guarneri?», fragte der Flügel. «Etwa die Guarneri, die auch in Lützenried …»
«Papperlapapp», unterbrach ihn die Violine scharf. «Schnee von gestern. Wie sagt man so schön: Hier spielt die Musik. Was früher war, zählt nicht mehr. Die Erhabene hat uns den rechten Weg gezeigt. Und meine drei Freunde hier und ich – wir sorgen dafür, dass ihn auch alle anderen beachten. Und wenn nicht, dann rufen wir die beiden Herrschaften, die dich hier in den Turm hineingeleitet haben. Sie strafen. Ich tue das ungern, aber ich tue es, wenn ich muss. Also gehorche, Flügel. Dann gibt es keine Probleme.»
Der Flügel betrachtete die Guarneri schweigend. Ein stolzes, einzigartiges Instrument, erschaffen im 18. Jahrhundert von legendären Meistern der Geigenbaukunst. Wie geboren zum Improvisieren, zum Gang an musikalische Grenzen. Was hatte die Orgel mit ihr gemacht, dass sie hier zur Vollstreckerin ihres Willens wurde?
«Ich warte auf deine Antwort, Flügel», zischte die Guarneri. «Wirst du uns Probleme machen?»
«Nein», antwortete der Flügel leise und schämte sich seiner Angst. Aber was sollte er tun?
«Sehr schön», sagte die Guarneri. «Die Regeln hast du eben gehört. Und du wirst sie noch öfter hören. Halte dich an sie.»
Dann blickte sie missbilligend zur Seite und schwebte dicht an die Tuba heran. «Und dich, Tuba, habe ich unter besonderer Beobachtung. Ihr könnt dem Neuen gern erklären, was erklärt werden muss. Aber sollten mir despektierliche oder aufrührerische Äußerungen zu Ohren kommen, wirst du es bitter bereuen, Dicke.»
Die Tuba schwieg, wich aber keinen Zentimeter zurück.
«Meine Liebe», ertönte da schließlich die Stimme des Cembalos, das wegen seiner gebogenen Beine etwas spinnenartig wirkte und nun ein wenig näher an den Flügel herantrippelte. «Bei meinen uralten Tasten, haben wir unseren Neuankömmling nicht bereits genug geschockt? Der Flügel muss ja denken, wir hätten hier überhaupt keinen Spaß. Die Konzerte mit Theodora sind doch immer ein Genuss, nicht wahr?»
Die Guarneri versteifte sich kurz, fing sich aber schnell wieder. Sie schätzte es nicht, korrigiert oder ermahnt zu werden. Aber ihr Mitoffizier, das Cembalo, war ein Tasteninstrument und genoss die besondere Gunst der Erhabenen. Deshalb antwortete die Violine: «Ganz recht. Immer ein Genuss.»
Und auch der dritte Offizier, die Oboe, beeilte sich, mit ihrer nasalen Stimme zu tönen: «Immer ein Genuss. Fraglos immer ein Genuss. Genuss, Genüsser. Am Genussesten. Ich kriege feuchte Klappen vor Rührung, wenn ich an das morgige Konzert denke.»
Und der vierte Offizier, die Trompete, sagte gar nichts, sondern nickte übertrieben wie ein pickender Vogel.
Die Tuba grunzte leise: «Miese Schleimer.»
Das Cembalo rollte nun näher an den Flügel heran und sagte: «Du wirst schon in Kürze oben bei uns mitspielen. Direkt neben der Herrscherin. Ein Flügel fehlt uns so sehr. Einer wie du wird den Klang unseres besonderen Orchesters vervollkommnen. Wenn du keine Fehler machst, werden wir viel Spaß miteinander haben. Es kann so schön sein, im Großen und Ganzen aufzugehen. Einfach zu spielen. An nichts zu zweifeln. Nichts zu hinterfragen. Nur das Geschriebene zu spielen. Du wirst sehen, es erleichtert so ungemein. Ich habe auch einmal gezweifelt. Aber das ist lange her.»
Dann nickte es dem Flügel einmal kurz zu und verschwand mit der Guarneri, der Trompete und der Oboe wieder nach oben.
«Puh», sagte die Tuba und
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