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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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begann auf sonderbare Weise zu verschwimmen, als ob sie sich auflöste. Und dann, ganz plötzlich, schrie die Frau: «Jetzt!», der Riese ließ die gleißend helle Saite fallen, und den Bruchteil einer Sekunde später berührte das leuchtende Ding den geschlossenen Deckel des Flügels.
    Der spürte einen gewaltigen Schlag vom Pedal bis zum Resonanzboden. Das helle Licht war jetzt überall. In ihm, um ihn herum. Nichts war mehr zu erkennen. Das Licht überstrahlte alles. Der Ton aus den Mündern der beiden Gestalten riss abrupt ab und wich einem Rauschen. Dann gab es einen lauten Knall, und dann war da nur noch Stille.

    Zeit verging.

    Der Flügel schwebte, sein Geist war vernebelt. Er fühlte eine sonderbare Leichtigkeit, hörte Töne, Fetzen von Melodien. Er sah das Gesicht von Bernhard Ogermann, das wieder verschwand, sah seine eigene Klaviatur. Die weißen und schwarzen Tasten, die sich auf einmal von selbst bewegten. Notenblätter wehten vorbei und türmten sich zu einem großen Papierhaufen zusammen. Ein Taktstock fuhr hinein, und auf einmal bildeten die Notenblätter eine Reihe. Jedes schwebte im gleichen Abstand zum nächsten. Eine endlose, soldatische Reihe, die in der Unendlichkeit verschwand.
    «Ich träume», dachte der Flügel. «Ich träume, und gleich wache ich auf und bin wieder in Bernhard Ogermanns Wohnzimmer. Jetzt weiß ich es: Das Ganze war nur ein böser Traum.»
    Aber da irrte unser armer Flügel gewaltig – denn mit einem Krachen landete er unsanft auf einem felsigen Boden. Eisige Kälte ließ ihn erschaudern, und neben ihm erhoben sich die rothaarige Frau und der riesige Mann.
    Die Frau sah ihn an, lachte und sagte dann: «Der Übergang ist immer ein wenig unsanft, mein Flügel. Das hier ist deine neue Heimat. Du wirst sie nicht mögen. Aber du wirst dich – wie alle – fügen. Willkommen in der Welt der Erhabenen. Willkommen in Königin Theodoras Reich!»

[zur Inhaltsübersicht]
    Der Turm
    D er Flügel stand auf einer gewaltigen, scheinbar endlosen Ebene. Weit entfernt am Horizont erkannte er verschwommen Berge. Ein seltsames Zwielicht herrschte, und dunkle Wolken zogen am Himmel vorbei. Ab und an war der Mond zu erkennen. Aber es war nicht der Mond, den er kannte. Hier, in dieser Welt, hatte er die Form einer Note. Glühend hing sie wie ein riesiges Menetekel am dunklen Himmel. Es war eiskalt, und ein sonderbares Wispern erfüllte die Luft. Der Flügel hörte Worte heraus: «Die Regel. Niemals. Wichtig. Beachte die Regel. Zähme dich. Beherrsche dich. Es steht geschrieben. Weiche nicht ab.» Das Wispern schwoll an und wieder ab.
    Abgesehen von den fernen Bergen gab es im ganzen Umkreis nur eine einzige Erhebung, und die ließ den Flügel zusammenzucken. Ein gigantisches Bauwerk ragte etwa fünfhundert Meter von ihm entfernt in den dunklen Himmel. Das musste er sein, der geheimnisvolle Turm, von dem die beiden Gestalten immer geredet hatten. Er war riesig, abweisend und sah mit seinen vielen Zinnen und Erkern aus wie vernarbt. Unzählige matt erleuchtete Öffnungen und Fenster ließen ihn wie ein lebendiges Wesen aussehen, wie ein zorniges, drohend emporgerecktes Tier mit zahlreichen funkelnden Augen. An seinen Seiten stiegen dichte weiße Nebelschwaden empor, die ein kalter Wind schließlich wieder zerstreute. Kleinere Nebentürme ragten in den nächtlichen Himmel, hageren Fingern gleich. Ab und an lugte zaghaft der Notenmond hinter den schwarzen Wolkengebilden hervor, flutete die Umgebung mit seinem weißlichen Licht und ließ die Wasserlachen, die vom letzten Re-gen übrig geblieben waren, glitzern wie Quecksilber.
    Unten am Fundament sah der Flügel etwas Unförmiges. Waren das Felsen? Nein – es waren die Reste von Brüdern und Schwestern des Flügels. Zu Stein gewordene Fragmente von Instrumenten, die nun mit dem Fundament des Turmes verwachsen waren. Nur das große Tor, das ins Innere des Bauwerks führte, war frei von ihnen.

    «Los jetzt», hörte er plötzlich die Stimme des großen Mannes hinter ihm. «Beweg dich. Rein mit dir in den Turm. Die Erhabene wartet.»
    Fast hätte der Flügel aufgelacht. «Beweg dich», hatte der Grobian gesagt. War der Mann wirklich so dumm? Wie sollte er sich denn bewegen? Ein großer, schwerer Flügel, der nur mit hohem Aufwand zu transportieren war?
    Er blieb also einfach stehen und wartete.
    «Hörst du schlecht?», fauchte die Rothaarige und trat gegen seinen Korpus. Und vor lauter Schreck hüpfte der Flügel einen ganzen Meter nach

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