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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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stieß erleichtert einen Stoß Luft aus ihrer großen Öffnung aus. «Gut, dass die weg sind. Ich fange an zu rosten, wenn ich die Guarneri nur sehe.»
    «Nicht so laut, Tuba», flüsterte eine Querflöte besorgt. «Überspann den Bogen nicht.»
    «Bogen?», fragte die Tuba. «Welchen Bogen? Ich habe nur Ventile.»
    Dann lachte sie, klopfte dem Flügel auf die Klappe, brummte «Wir sehen uns» und verschwand.

    Die Instrumente in der großen Halle und auch in den Bogengängen zerstreuten sich. Anscheinend hatten sie alle jetzt erst einmal nichts zu tun. Allgemeines Gemurmel war zu hören, aber niemand spielte Musik.
    Die Querflöte blieb bei dem Flügel. «Frag, was du fragen willst. Was ich weiß, sage ich dir», sagte sie.
    «Warum ich?», fragte der Flügel nur. «Ich bin doch nichts Besonderes.»
    «Na, in diesem Fall wärst du nicht hier», antwortete die Querflöte. «Du bist ganz sicher ein hervorragendes, einzigartig gelungenes Exemplar. Ein Steinway – ich bitte dich. Und du willst nichts Besonderes sein? Wir alle hier sind etwas Besonderes. Zumindest meint Theodora das. Sie ist besessen von dem Gedanken, die besten Instrumente um sich zu versammeln. In regelmäßigen Abständen kommen neue, aber manchmal vergeht viel Zeit zwischendurch. Ihre Ansprüche sind hoch. Ihre Schergen durchkämmen ständig die Menschenwelt, immer auf der Suche nach noch besseren Exemplaren.»
    «Und was geschieht mit den ausgemusterten?», fragte der Flügel ängstlich.
    «Je nachdem», antwortete die Querflöte mit düsterem Unterton. «Der Turm ist groß. Die meisten arbeiten hinten am Ende des Saales, wo es dunkler wird. Dort gibt es einen Durchgang in einen anderen Saal. Dort steht das Monument.»
    «Was für ein Monument?», fragte der Flügel.
    «Komm mit, ich zeige es dir», antwortete die Querflöte und schwebte voran.

    Der Flügel rollte hinterher, vorbei an zahllosen Instrumenten, die ihn anstarrten. Einige nickten ihm zu, andere rührten sich nicht. Der Saal war von gigantischer Größe, gemauert aus schweren, steinernen Blöcken. Hinten verjüngte er sich und mündete in einen schmalen Gang. Hier, in der Dunkelheit, hatte der Flügel ja schon vorhin Gestalten registriert. Und jetzt erkannte er, um was es sich handelte: Es waren ebenfalls Instrumente, aber es schien ihnen nicht gutzugehen. Sie glänzten und funkelten nicht, an ihnen war nichts mehr besonders. Schmutzig, verschrammt und verbeult standen sie teilnahmslos in den Ecken herum oder huschten wie geprügelte Hunde umher, von einer Deckung in die andere.
    Die Querflöte schwebte bis an eine große, schwere Holztür heran und wartete. Nach wenigen Sekunden öffnete sich knarrend die Tür, und eine Gruppe ebenfalls traurig aussehender Instrumente schlurfte erschöpft hindurch in einen weiteren Saal. Der Flügel und die Querflöte folgten ihnen.

    Und dort, in der Mitte eines Raumes von ebenfalls erhabener Größe, stand das Monument.
    Es war ein gigantisches Denkmal aus blankpoliertem Marmor und zeigte eine fremdartig aussehende Orgel auf einem überdimensionalen Thron.
    «Das ist die legendäre Wasserorgel Theophanu», sagte die Querflöte leise. «Die Urahnin aller aerophonen Instrumente, also aller Luftklinger. Es wurde nach dem Abbild der Urmutter Theophanu gefertigt. Der Sage nach hat sie in früher Vorzeit allen Unwegsamkeiten zum Trotz ihren Siegeszug aus dem Byzantinischen Reich Richtung Europa angetreten. Von dieser Zeit an wurde sie von allen nachfolgenden Generationen der aerophonen Instrumente wie eine Heilige verehrt. Für Theodora ist sie so etwas wie eine Göttin. Es heißt, aus diesem Mahnmal schöpft sie ihre Kraft. Kein Fleck, kein Staubkorn darf das Monument verschmutzen. Und da siehst du, was die Ausgemusterten machen.»

    Erst jetzt bemerkte der Flügel, wie sich zahlreiche Instrumente, mit Tüchern, Lappen und Schwämmen bewaffnet, an dem Mahnmal zu schaffen machten. Sie wienerten, wischten und polierten verbissen und der Erschöpfung nahe an jedem Zentimeter des Theophanu-Denkmals herum – deshalb leuchtete es so hell in festlichem Glanz und ließ die putzenden Instrumente umso jämmerlicher aussehen.
    Vorsichtig rollte der Flügel um das Monument herum.
    Am Fuße des Mahnmals entdeckte er eine rund zwei Quadratmeter große, ebenfalls blankpolierte Messingplatte, auf der etwas eingraviert war. Noten und Worte. Der Flügel las beides und stutzte. Diese Worte und diese Melodie kannte er:
Ich bin ein Bild in Stein.
Seikilos stellte mich

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