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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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hier auf, wo ich auf ewig bleibe,
als Symbol zeitloser Erinnerung.
Solange du lebst, tritt auch in Erscheinung.
Traure über nichts zu viel.
Eine kurze Frist bleibt zum Leben.
Das Ende bringt die Zeit von selbst.
    Dies waren doch die geheimnisvollen Worte, die ihm der alte Blüthner in der Auktionshalle zugeraunt hatte! Zusammen mit dieser sonderbaren, zeitlosen Melodie.
    «Ich kenne das», flüsterte er der Querflöte zu.
    «Tatsächlich?», fragte die verwundert. «Das hat noch keiner gesagt, der hier stand. Weißt du denn, um was es sich handelt?»
    «Nein», antwortete der Flügel. «Absolut keinen Schimmer.»
    «Das», sagte die Querflöte, «ist das sagenumwobene Seikilos-Epitaph. Das Cembalo, unser belesener Bücher- und Notenwurm, hat es mir erklärt.»
    «Seikilos-Epitaph», wiederholte der Flügel grübelnd.
    «Also», erklärte die Querflöte beflissen. «Das Cembalo sagt: Diese Inschrift ist auf einem antiken griechischen Grabstein aus Ephesus in Kleinasien gefunden worden und hat bis dahin über Jahrhunderte hinweg ein Dasein im Geheimen gefristet. Diese Melodie soll Seikilos, ein griechischer Kaufmann, seiner verstorbenen Ehefrau gewidmet haben. Es ist der erste überlieferte Beweis für die Niederschrift von Noten. Du kannst dir denken, wie sehr unsere Herrscherin diese Noten und diesen Text verehrt. Es ist ihr Heiligtum. Die ersten Noten. Das erste Lied. Klassischer geht es doch nicht. Aber sag mal, woher kennst du das eigentlich?»
    «Jemand hat es mir vorgespielt», antwortete der Flügel. «Als ich in diesem Auktionshaus in …»
    Ein kräftiger Faustschlag auf seinen Deckel unterbrach die Wortes des Flügels. Es war der riesige, grobschlächtige Mann. «Hier steckst du also, Flügel», grunzte er. «Folge mir, Theodora will dich neben sich sehen, wenn sie erwacht. Ab mit dir in die obere Ebene. Und du, Querflöte, verschwindest hier schleunigst, oder willst du mit den anderen putzen?»

[zur Inhaltsübersicht]
    Die Prüfung
    W ortlos schritt der grobe Kerl voran, und der Flügel folgte ihm bis zu einem mit Holz ausgekleideten Fahrstuhl. Der Mann ging hinein, bellte einen Befehl, und der Fahrstuhl setzte sich knirschend in Bewegung. Wenige Sekunden stoppte er, die Tür glitt auf, und der Flügel rollte hinein in die obere Ebene. Dort, unter der Kuppel einer mächtigen Halle, thronte schlafend die Erhabene. Riesig, furchteinflößend. Ihre Pfeifen bewegten sich im Rhythmus eines Atems, der klang wie das leise Heulen eines fernen Herbststurmes.
    Zu Theodoras Füßen standen das Cembalo und ein zierlich wirkendes Tasteninstrument. Eine Celesta, wie der Flügel schließlich erkannte. Er erinnerte sich: Eine Celesta klang wie ein Glockenspiel, weil ihre Hämmerchen auf Tastendruck gegen kleine Metallplatten schlugen. Die Celesta zwinkerte dem Flügel beruhigend mit ihren Messingscharnieren zu; das Cembalo nickte nur zerstreut. Es war in ein vor ihm schwebendes Notenblatt vertieft und murmelte mit leiser Stimme: «Sehr interessant. Äußerst interessant. Verdammt interessant. Unfassbar interessant. Eine Originalhandschrift. So was kriegt man nur selten vor die Tasten.»
    Etwas weiter hinten in dem großen Raum, im Halbschatten, stand schweigend und bewegungslos die Guarneri. Der grobe Mann blieb vor dem Fahrstuhl stehen und verschränkte die kräftigen Arme vor der Brust. Aus einer Nische in der Mauer kam nun unversehens die rothaarige Frau hervor. Sie wandte sich dem Flügel zu, deutete auf einen freien Platz direkt neben Theodora und zischte: «Los, dahin und Maul halten.»
    Der Flügel tat wie ihm geheißen und wartete.
    Niemand sprach.
    Die Celesta sah allerdings immer wieder zu ihm herüber. Der Flügel fühlte ein ungewohntes Prickeln in seinen Saiten. Dieser Blick. Irgendetwas machte es mit ihm, dass ihn dieses Instrument so ansah.
    Plötzlich gab Theodora einen Ton von sich – ein anschwellendes Brummen, das aus ihren großen Pfeifen drang. Und mit einem schmatzenden Geräusch öffnete sich schließlich ihr Zyklopenauge, irrte kurz durch den Raum und blieb auf dem Flügel haften.
    «Ah», brummte sie. «Unser Neuling. Wir werden jetzt hören, wie gut du bist. Und ich will dir raten, gut zu sein. Spiel dies.»
    Ein Notenblatt flog umgehend aus der Klappe des Cembalos und blieb vor dem Flügel in der Luft stehen. Es waren die Noten der Sonate 141 von Domenico Scarlatti. Ein schnelles, nicht einfaches Stück. Die Guarneri sah gespannt zum Flügel herüber; jetzt würde sich zeigen, aus welchem

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