Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
gesehen. Was hat es damit auf sich?»
«Nun», begann das Cembalo und hob seine Deckelstütze wie einen Zeigefinger in die Luft. «Das ist so. Pauke, Trommel und Becken leben in einem der Nachbartürme. Sie sind … nun ja, sagen wir es so: Sie sind unsere Gäste. Die Schlaginstrumente unterstehen dem Bergkönig, dem Hüter der Rhythmen. Sein Reich beginnt am Ende der Ebene. Niemand von uns war je dort. Die beiden Herrscher haben eine Vereinbarung. Der Bergkönig schickt ständig Schlagwerkzeuge her, damit sie in Theodoras Konzerten mitspielen. Die Instrumente fügen sich und musizieren brav mit, bis sie abgelöst werden. Und die, die dann zum Bergkönig zurückkehren, werden von Theodora zum Dank mit ihrer magischen Energie aufgeladen. Die schätzt der Bergkönig sehr. Sie schenke ihm phantastische musikalische Träume, sagt man.»
Interessant, dachte der Flügel. Es gab also Instrumente, die die Orgel nicht ganz beherrschte. Theodora war sehr mächtig, aber offenbar nicht allmächtig. Aber das dachte er nur – ihm war klar, dass man in dieser Welt Derartiges lieber für sich behielt.
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Der Plan
J etzt, wo die Erhabene schlief, zerstreuten sich die Instrumente wieder. Die Guarneri verschwand geräuschlos, ohne dass es jemand bemerkte. Das Cembalo stakste auf seinen gebogenen Beinen wie eine Spinne in Richtung Fahrstuhl, klopfte dem Flügel aber noch einmal anerkennend auf den Deckel. «Es ist ständig unten in den Katakomben bei seinen Noten», erklärte die Celesta. «Und außerdem hast du wunderbar gespielt», fügte sie noch errötend hinzu. Der Flügel lächelte. Auch er wurde rot.
Da bewegte sich hinter ihnen etwas – die rothaarige Frau und der Riese. Die beiden setzten sich wortlos in Mauernischen und schlossen ebenfalls die Augen, als ob sie auf unheilvolle Weise mit der Orgel verbunden wären.
Der Flügel schüttelte sich. Unheimlich, diese Gestalten!
«Darf ich mich im Turm frei bewegen?», fragte er die Celesta.
«Ich bitte dich», antwortete die Celesta. «Du bist ein Tasteninstrument. Du darfst beinahe alles. Geh nur.»
Also rollte der Flügel in Richtung Fahrstuhl, rief: «Abwärts», und rumpelnd setzte sich der Aufzug in Bewegung.
Unten in der Halle traf er auf andere Instrumente, die dort leise tuschelnd herumstanden. Die Tuba blickte ihn misstrauisch an. «Na, Flügel», fragte sie vorsichtig. «Bist du nach dem intensiven Gespräch mit der Erhabenen schon überzeugt von den Freuden der Notentreue? Du als bevorzugtes Tasteninstrument?»
Der Flügel rollte näher an die Tuba heran und sagte: «Nein, das bin ich nicht. Ich kann gar nicht glauben, dass alle sich fügen. Ihr seid so viele.»
«Leise», fiepte die Querflöte ängstlich. Sie war an die beiden herangeschwebt und blickte sich besorgt um.
Die Tuba musterte den Flügel aufmerksam. «Ich hab gleich gemerkt, dass du etwas Besonderes bist. Dich kriegen sie nicht so schnell klein. Aber am Ende wirst du dich unterwerfen. So wie ich und mein Freund Flöti hier.»
Die Querflöte kuschelte sich an die Tuba heran und nickte mit traurigen Augen.
«Wir sind zwar die Einzigen, die überhaupt noch mal ein leises kritisches Wort unter uns Instrumenten wagen», fuhr die Tuba fort. «Aber offen auflehnen? Nein, lieber nicht. Wir wollen nicht das Monument putzen, bis wir kaputt sind.»
«Dann lieber flöten, was die Alte will», ergänzte die Querflöte.
«Wo du recht hast, hast du recht», brummte die Tuba. «Auch wenn’s schwerfällt. Bei meinen rostfreien Klappen: Wir müssen machen, was die Orgel will.»
Der Flügel blieb nachdenklich stehen. Die Pracht der großen Halle wirkte auf einmal glanzlos auf ihn. Was war das für ein Leben? Spielen ohne Freiheit? Immer nur Gehorsam?
Düster brütete er vor sich hin, als sein Blick auf zwei Instrumente fiel, die er bisher noch nicht gesehen hatte: eine Trommel und zwei in der Luft schwebende Becken, die sich etwas abseits nahe dem Eingang aufhielten. «Die Leihgaben des Bergkönigs», dachte der Flügel und rollte näher an die beiden heran.
Die Trommel sah auf, musterte ihn und sagte: «Ah, der neue Flügel. Der bald an Theodoras Seite die feinsten Sachen spielen wird. Was treibt dich zu uns?»
«Ich will mehr wissen. Von euch. Vom Bergkönig!», platzte der Flügel heraus.
Die Becken flogen auseinander, vollführten eine Art Welle in der Luft, glitten dann mit leisem Scheppern sanft wieder aneinander und sagten: «Oh, ein neugieriger Flügel. Einer, der noch
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