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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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war in jungen Jahren, wenn ich das an dieser Stelle erwähnen darf, auch nicht schlecht. Aber ein Nichts im Vergleich mit ihr. Sie war unter den Geigen die nuancierteste Interpretatorin, keine schaffte es, ein gehauchtes Pianissimo und ein strahlendes Fortissimo auch nur ähnlich klingen zu lassen. Ihre Stimme konnte sanft wie der Windhauch eines lauen Sommerabends und kraftvoll wie ein Taifun in der Südsee sein. Ach, sie war eine ganz Große. Mit profunder Bühnenerfahrung, denn sie war ja in allen großen Häusern der Welt zu Hause. Aber sie hatte neben Übung und Einfühlungsvermögen vor allem auch eine gehörige Portion Selbstbewusstsein. Ein tiefes Wissen um die eigenen Stärken. Etwas, was dir noch fehlt, mein Guter. Ich spüre es: Auch du hast etwas Besonderes. Große Kraft. Aber du weißt es noch nicht. Und weil du besonders bist, besonders wie einst die Guarneri, sind diese finsteren Gestalten hierhergeschickt worden.»
    «Aber wer sind sie?», fragte der Flügel verzweifelt. «Und was wollen sie von mir?»

    «Wie ich schon sagte, sie sind die Schergen des Turms. Sie herrscht darin, und sie hat sie geschickt. Sie sollen dich zu ihr in den Turm bringen – zu ihr, der Erhabenen.»
    «Bitte, Blüthner», flehte der Flügel. «Drück dich klarer aus. Ich verstehe das alles nicht. In was für eine Welt wollen sie mich bringen? Wer ist sie? Und warum ausgerechnet mich? Und woher willst du das alles überhaupt wissen?»
    «Ich bin schon sehr, sehr lange hier», antwortete der alte Blüthner. «Ich habe es so oft erlebt, wie sie welche von uns geholt haben. Ich bin alt, aber meine Sinne sind mit jedem Jahr schärfer geworden. Ich konnte schon immer mehr hören und sehen als andere. Auch Verborgenes. Und manchmal empfange ich Signale von drüben. Erst Hilferufe, Klagen. Und schließlich am Ende immer Resignation und Anpassung. Du musst wissen, mein kleiner Flügel: Es gibt nicht nur diese Welt. Irgendwo zwischen den Dimensionen existiert eine andere. Eine dunkle Welt. Manchmal sehe ich auch verschwommene Bilder. Und immer wieder erkenne ich einen großen Turm. Und darin höre ich ihre Stimme. Und jedes Stück Holz, jede Saite, jede Schraube in mir erschaudert. Ich weiß nicht, wer sie ist, aber die anderen Instrumente nennen sie voller Angst ‹Die Erhabene›.»

    Der Flügel zitterte, als er die Worte des alten Blüthners hörte. «Sag, hast du jemals einen wiedergesehen, der hinüberging?», fragte er leise.
    «Nein», antwortete der Blüthner. «Niemals.»
    «Was soll ich nur tun?», wimmerte der Flügel. «Das klingt alles so furchtbar. Hilf mir. Bitte, hilf mir! Ich will nicht an diesen Ort!»
    «Ich kann nicht viel tun», antwortete der Blüthner. «Aber ich gebe dir etwas mit auf den Weg, den du wohl gehen wirst, ob du nun willst oder nicht. Immer wieder, wenn ich Botschaften von drüben empfange, höre ich etwas … ich höre diese Melodie. Vielleicht sagt sie dir eines Tages etwas. Hör mir zu.»
    Er summte leise eine sonderbare Tonfolge. Sie war nur kurz, aber während die Töne erklangen, schien die Zeit stillzustehen. Und dann, ohne jeden Übergang, sprach der Blüthner wie in Trance:
«Ich bin ein Bild in Stein;
Seikilos stellte mich hier auf, wo ich auf ewig bleibe,
als Symbol zeitloser Erinnerung.
Solange du lebst, tritt auch in Erscheinung.
Traure über nichts zu viel.
Eine kurze Frist bleibt zum Leben.
Das Ende bringt die Zeit von selbst.»

    «Blüthner», fragte der Flügel verwirrt, «was soll das bedeuten? Was willst du mir damit sagen?»
    «Sagen?», murmelte der Blüthner mit schwerer Stimme. «Bedeuten? Ich weiß nicht … ich kann nicht … ich bin auf einmal so müde.»

    Dann war er still.

    Und mitten in diese Stille hinein hörte der Flügel das Schlagen eines Holzhammers. Dreimal. Und dazu donnerte eine Stimme: «Zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten. Der Steinway-Flügel geht an die rothaarige Dame in der mittleren Reihe.»

[zur Inhaltsübersicht]
    Der Übergang
    J etzt war es also geschehen! Die schreckliche Frau und ihr riesiger Begleiter hatten den Flügel ersteigert, und er hatte es noch nicht einmal mitbekommen. Doch die beiden ließen keine Anzeichen von Triumph oder Genugtuung erkennen. Sie blieben regungslos auf ihren Plätzen sitzen.
    Langsam leerte sich der Auktionssaal, draußen dämmerte es bereits. Schließlich waren nur noch der Auktionator und die beiden unheimlichen Gestalten im Raum. Der riesige Mann schritt zur Tür und schloss sie von innen ab. Die

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