Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Filmmusiken und Arrangements für bekannte Künstler und hatte sich damit in der Musikszene einen sehr guten Ruf erworben. Seine Auftragsbücher waren nach seinem Studium direkt gut gefüllt, und eines Tages war es dann so weit: Er hatte genug Geld gespart, um sich einen eigenen Flügel zu kaufen. Einen aus der Königsklasse, einen Steinway. Er bekam einen Termin im heiligen Auswahlsaal der Fabrik, in dem auch unser Flügel mit noch etwa dreißig anderen Exemplaren auf einen Käufer wartete.
Ogermann schritt schweigend und mit klopfendem Herzen an den Instrumenten vorbei. Es gibt Käufer, die beschäftigen sich den ganzen Tag eingehend mit jedem einzelnen der ausgestellten Flügel – so lange, bis ihr Urteilsvermögen ganz benebelt ist von der Flut an Eindrücken und Nuancen, die die Instrumente zu bieten in der Lage sind. Und schließlich wird es für sie beinahe unmöglich, eine klare Entscheidung zu treffen. Andere wiederum sind zielstrebiger, spielen auf zwei, drei Exemplaren und entscheiden schnell, im Gefühl, dass sie bei derart exklusiven Instrumenten eigentlich nicht so viel falsch machen können.
Manchmal aber suchen sich die Flügel ihren «Spieler» selbst aus. Wenn sie nämlich das Gefühl haben, dass ein besonderer Mensch in ihrer Nähe ist. Und so war es bei Ogermann. Als er an einem der Flügel vorbeiging, fühlte er den unwiderstehlichen Drang, sich hinzusetzen und einen Ton zu spielen. Und dieser eine Ton reichte. Die Energie des Unterarms und des Fingers floss in die Taste, wurde über die komplizierte Mechanik auf den Hammer übertragen. Der schlug eine Saite an, die zu schwingen begann. Diese Schwingungen wurden von dem unter Spannung stehenden Resonanzkörper verstärkt und gaben einen reinen, klaren Ton, der wie ein Kolibri schwirrend in der Luft stand. Es war ein magischer Moment. Instrument und Mensch verschmolzen auf wundersame Weise, und Ogermann hörte sich sagen: «Der hier und kein anderer.»
Und wenige Tage später wurde der Flügel in das Wohnzimmer der Ogermanns geliefert.
Bernhard Ogermann war glücklich – und der Flügel ebenfalls. Die ganze folgende Woche verbrachten beide beinahe ununterbrochen zusammen und spielten stundenlang miteinander. Menschen und Instrumente brauchen eine gewisse Zeit, bis so etwas wie Harmonie zwischen ihnen entsteht – Ogermann und sein Flügel schafften es in Rekordzeit.
Die Jahre vergingen, und beide wurden zu einer musikalischen Einheit. Der Flügel genoss es, wenn Ogermann auf ihm spielte, und Ogermann genoss es, wenn der Flügel alles preisgab, was an Tönen in ihm steckte. Die beiden waren so gut aufeinander eingespielt, dass Frau Ogermann sogar schließlich ein wenig eifersüchtig auf den Flügel wurde. «Du verbringst mehr Zeit mit ihm als mit mir, Bernhard», tadelte sie ihren Mann. Ogermann runzelte die Stirn, dachte nach und sagte dann: «Hmm … stimmt. So geht es nicht weiter. Du musst dir unbedingt auch Tasten einbauen lassen.» Frau Ogermann lachte und schüttelte den Kopf. «Kindskopf. Spiel du nur weiter, aber heute Abend gehen wir ins Kino, oder es gibt Ärger.» Das taten sie dann auch, und Ogermann konnte es sich nur mit Mühe verkneifen, am späten Abend, als beide nach Hause kamen, noch ein Stück zu spielen. Er ging nur schnell vor dem Zubettgehen zu seinem geliebten Flügel, strich ihm über die Tasten und flüsterte: «Ich werde dich nie weggeben, solange ich lebe.»
Vier Monate später war Bernhard Ogermann tot.
Sein Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Frau Ogermann musste nun sehen, wie sie allein zurechtkam. Sie arbeitete als Schneiderin, verdiente aber sehr wenig und kam gerade so hin. Sie wusste, der Flügel war eine Menge Geld wert, aber ein Jahr lang brachte sie es nicht fertig, ihn zu verkaufen, weil ihr Bernhard ihn so geliebt hatte.
Der Flügel vermisste seinen Spieler sehr. Frau Ogermann staubte ihn zwar regelmäßig sorgfältig ab, aber sie spielte selbst nicht. Der Flügel verstummte also und lag in einer Art Dämmerschlaf. Bis Frau Ogermann schließlich die Zeit für gekommen ansah und beschloss, ihn zu verkaufen. Und so war unser Flügel schließlich vom gemütlichen Wohnzimmer der Ogermanns in das kühle Auktionshaus im Bahnhof von Lützenried gekommen.
Dort sollte sich sein Schicksal entscheiden.
«Vielleicht», sprach sich der Flügel nun selbst Mut zu, «vielleicht komme ich ja zu einem talentierten Kind. Oder werde Mitglied eines berühmten Orchesters. Schließlich bin ich ein
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