Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
was man mit Nellys Billerbeck-Problem machen muss.
Wochen vergehen. Nelly wird immer trauriger. Doch eines grauen Herbsttags, als Nelly gerade schon wieder eine Ausrede gefunden hat, um nicht üben zu müssen, klingelt es an der Haustür. Aus den gedämpften Stimmen im Flur kann sie unmissverständlich eine ganz besondere, tiefe Stimme heraushören. Großvater! Im gleichen Moment fliegt sie ihm schon entgegen. Minutenlang liegen sich die beiden in den Armen. Am liebsten würde sie ihm gleich alles erzählen. Von Frau Billerbeck, dieser blöden alten Hexe, die schuld ist, dass Nelly die Lust an der Musik verloren hat. Aber erst einmal gibt es Kaffee und Kuchen, und ihre Eltern und Großvater reden über alles Mögliche. Nelly wird immer stiller. Und schließlich, als ihre Eltern in der Küche beschäftigt sind, sieht Großvater sie an und sagt: «Und jetzt, meine kleine Nelly, ’tschuldige, meine große Nelly, jetzt sagst du deinem alten Opa mal, was dich bedrückt. Ich kenne dich doch. Es stimmt was nicht, stimmt’s, oder habe ich recht?»
«Es stimmt so was von gar nix, Opa», sagt Nelly und fängt an zu erzählen.
Als sie ihre Geschichte beendet, sieht ihr Großvater sie lange an. «Na, da haben wir aber ein echtes Problem», sagt er. Dann steht er langsam auf, holt sich eine Tasse Tee und geht gemächlich zum alten chinesischen Stuhl. Laut ächzt das alte Holz unter seinem Gewicht, als er Platz nimmt. Der Tee dampft auf dem kleinen Tischchen, und Großvater sagt: «Mach’s dir auf dem Sofa bequem, Nelly. Ich will dir jetzt mal eine Geschichte erzählen. Von jemandem, dem es ganz ähnlich ging wie dir. Diese Geschichte spielt in der magischen Welt der Musik. Einer Welt, in der die Instrumente eine Seele haben.»
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Die Auktion
D er Flügel stand da und wartete. Noch nie in seinem Leben, das jetzt schon über zehn Jahre dauerte, hatte er sich so einsam gefühlt. In Lützenried, einem verschlafenen kleinen Nest, würde sich sein weiteres Schicksal entscheiden. Hier, im alten Bahnhof des Städtchens, gab es ein Auktionshaus für Instrumente. Dorthin hatten sie ihn gebracht, und hier sollte er für möglichst viel Geld an seinen neuen Besitzer verkauft werden.
Lützenried, ein Ort von bemerkenswerter Schlichtheit, war in der Musikszene berühmt geworden, weil vor Jahren angeblich eine echte antike Guarneri-Violine für einen absoluten Dumpingpreis den Besitzer gewechselt haben soll. Wahrscheinlich war das Unsinn. Aber die Lützenrieder hatten nicht das Geringste gegen das hartnäckige Gerücht einzuwenden. Es gab ihrer alljährlichen Auktion einen Hauch von Exklusivität. «Wer weiß», schrieb die Zeitung Lützenrieder Landbote, «ob hier in ‹Lütze›, wie die Einheimischen sagen, nicht noch weitere musikalische Schätze ihrer Entdeckung harren? Eine Violine des Teufelsgeigers Paganini etwa? Oder ein Klavier, das einst Mozart gehörte? Besuchen Sie unsere Auktion. Vor dem Gebäude spielt, wie in jedem Jahr, die Band Ohrenschmalz.»
Das Motto dieser Schlager-Combo hieß «Lieder, die wie Brücken sind», aber die Truppe spielte so gleißend schlecht, dass Spötter das Motto in «Lieder, die wie Krücken sind» umbenannten.
Trotz der gruseligen Band kamen jedoch einmal im Jahr viele Sammler und jede Menge Neugierige in die Räume des Lützenrieder Bahnhofs auf der Suche nach einem Schnäppchen oder dem ultimativen Fund.
Unser Flügel, dessen dramatische Geschichte hier erzählt wird, war tief in Gedanken versunken. Er merkte kaum, dass sich der Raum mit immer mehr Menschen füllte und unzählige Augen ihn und die anderen Instrumente ansahen, dass neugierige Hände ihn betasteten und klebrige Finger seine Tasten drückten. Es klang traurig, denn der Flügel war in düsterer Stimmung. Er dachte an früher. An die Zeit, als noch alles gut war. An das beschauliche Wohnzimmer der Familie Ogermann, in dessen Mitte er einst gestanden hatte. Der alte Bernhard Ogermann war sein Besitzer gewesen, und der Flügel konnte mit Fug und Recht sagen, dass er und Ogermann auf eine ganz spezielle Weise zu Freunden geworden waren. Natürlich lebten beide in verschiedenen Welten. Menschen und Instrumente reden nicht miteinander, zumindest nicht direkt. Aber in ganz besonderen Fällen verbindet beide Seiten die universelle Sprache der Musik, und sie verstehen einander ohne Worte.
Bernhard Ogermann war Musiker, weniger ein ambitionierter Spieler als vielmehr ein begnadeter Arrangeur. Er schrieb
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