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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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Noor! Im Laufe der letzten zwei Wochen hatten sich die Blätter des Banyan-Baums nach und nach rot gefärbt, und auf zweien der roten Blätter turtelte gerade ein Taubenpaar. Drinnen verbreitete der Babur ein noch stärker leuchtendes Gold.
    »Und was passiert wohl mit diesem Apparat?«, fragte sich Arzee.
    Seit dreißig Jahren stand der Babur in demselben Raum an derselben Stelle, atmete vier Vorführungen pro Tag aus, zuverlässig wie der Sonne Lauf. Und er war verbunden – Arzee war sich sicher, dass der Babur mit den Geleisen verbunden war, die in der Ferne vom Zugverkehr ratterten und summten, und weiter draußen mit den wechselnden Gezeiten an Bombays gewundener Küste – mit den Ampeln, diean den Verzweigungen der städtischen Verkehrsadern ihre roten und grünen Augen leuchten ließen, mit den Massen, die in den Straßen wogten wie das Meer. Der Babur war Teil des Systems – sein großer Lichtstrahl war einer der Grundpfeiler, die es stützten und trugen. Niemand wusste von ihm, niemand dachte über ihn nach, doch er war da, und wenn er einstürzte, würde alles andere in sich zusammenfallen. Es hieß ja, die Sonne werde sich eines Tages selbst auslöschen, und das Leben auf der Erde werde auf einen Schlag enden. Der Tag, an dem der große Lichtstrahl erlosch, würde solch ein Weltuntergangstag sein, das wusste er.
    Er hörte, wie unten die Tür aufging. Kurz darauf erschien der Kopf von Sule, der dreinschaute, als rechnete er jeden Augenblick mit einem Hinterhalt. Sules Slipper machten auf dem Steinboden ein leises flappendes Geräusch. Als er merkte, mit welchem Gesichtsausdruck Arzee ihn ansah, schien er sich wegzuducken.
    »Was ist denn? Warum bist du hier?«
    »Ich wollte nur schauen, ob du … ob du Hilfe brauchst?«
    »Ich brauche keine Hilfe, und von dir schon gar nicht. Hau ab!«
    Sule wandte sich um und ging, so schleppend und mühsam, wie er gekommen war.
    »Hau ab! Hau ab! Hau ab! …« Die zornigen Worte schienen in der Stille nachzuhallen. Vor dem Fenster pickten und gurrten die Tauben, als äußerten sie dezente Anteilnahme, weil auch Arzee jetzt wie Sule nur noch Filmvorführer auf Zeit war.

Sechstes Kapitel
Mutter und andere ältere Menschen
    M itternacht war schon vorbei, als Arzee nach der letzten, spärlich besuchten Vorstellung das Noor verließ und sich auf den Heimweg machte. Es war seine übliche Zeit. Lichtspieltheater, Bars, Bordelle und Polizeistationen – das waren die einzigen Etablissements, die nach Mitternacht noch offen waren. Die Kinos waren die respektabelsten: Sie schlossen als Erste.
    Zwischen den verschwommenen Umrissen und Schatten der Straße war Arzee der Einzige, der noch auf den Beinen war. Überall lagen Menschen in den unterschiedlichsten Haltungen, doch vereint in demselben Zustand, dem Schlaf. Als er sich der Grant Road Bridge näherte, sah er im Dunkeln zwei stöhnende, rammelnde Gestalten; ob Mann und Frau oder eine andere Kombination, konnte er nicht erkennen. Er spuckte zur Seite aus und eilte weiter. Kurz darauf begegnete er einem anderen Menschen, der auch noch wach war: ein alter Mann in Shorts und Unterhemd, der sich Essen aus einer Plastikschachtel in den Rachen schaufelte und dabei mit leerem Blick in die Ferne starrte. In zwei Tagen würde es genau sechzig Jahre her sein, dass Indien die Unabhängigkeit erlangt hatte. Und doch gab es immer noch so viele Arme, Arbeitslose, Obdachlose. Die Nähte, die die Gesellschaft zusammenhielten,verschlissen zusehends; die alte Welt wurde von der neuen getreten, geschlagen, zusammengestaucht. Wenn es so weiterging, würde es sehr bald zu einem Flächenbrand kommen, da war sich Arzee sicher.
    »Was für ein Tag!«, dachte er sich. »Ich weiß nicht, wie ich den überstanden habe.«
    Er hatte sich bereits zurückgezogen – aus dem Leben zurückgezogen. Um sechs war er nicht auf eine Tasse Tee zwischen den Vorstellungen hinuntergegangen, wie er es sonst immer tat, weil er nicht mit der elenden Welt konfrontiert werden wollte, in die er gestoßen werden würde. Er hatte sich auch nichts hochbringen lassen. Er hatte den ganzen Tag gehungert. Ihm war nicht nach Essen zumute gewesen. Als es dämmerte, hatte er nicht die Kerze in der Ecke angezündet, die den ganzen Vorführraum mit tanzenden, flackernden Schatten erfüllte und ihn zum menschlichen Babur werden ließ, wenn er mit den Händen Schattenbilder von Tieren formte. Er hatte keinerlei Schränke oder Spinde aufgemacht, aus denen ihm jedes Mal zuverlässig

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