Der kleine Koenig von Bombay
gleich selbst in die Offensive gegangen war, bevor er festgenagelt werden konnte! Arzee musste einen Moment überlegen, ehe er auf eine Antwort kam, die Phiroz wieder dahin bringen würde, wo er ihn haben wollte.
»Tja, Phirozbhai«, sagte er und zog jedes seiner Worte in die Länge, »wie geht es dir denn heute so?«
»Ganz gut.« Phiroz faltete ein Plastikpäckchen zu einem ganz kleinen Quadrat und steckte es sich dann in die Tasche. »Hab ein bisschen Schmerzen – hier. Verdauungsbeschwerden, nehme ich mal an. Ich habe gerade versucht, die Transportrolle zu finden, die immer dieses kratzende Geräusch im Filmkanal macht, aber ich entdecke sie nicht. Komisch. Versuch du es mal.«
»Verdauungsbeschwerden?«, wiederholte Arzee. »So so. Ist deine Verdauung dein einziges Problem, Phirozbhai? Verspürst du nicht noch einen anderen Schmerz?«
»Mein einziges Problem? Was redest du denn da? Ich habe eine Unmenge von Problemen.«
»So so. Eine Unmenge von Problemen. Verstehe. Und was ist dein größtes Problem, Phirozbhai? Das Problem, das dir am meisten auf der Seele liegt?«
»Im Moment ist es das Gold«, erklärte Phiroz. »Das alte Gold muss eingeschmolzen werden.«
»
Gold
? Was für ein Gold?«
»Das alte Gold. Diese Ornamente kann man heute nicht mehr tragen. Und dann sind da noch die Geschenke für die andere Seite und der Partyservice.«
»Wofür brauchst du denn einen Partyservice?«
»Für die Hochzeit.«
»Welche Hochzeit?«
»Meine Tochter heiratet.«
»Deine Tochter heiratet?!«
»Am Montag, dem siebenundzwanzigsten«, sagte Phiroz und blickte dabei auf den Wandkalender, ein Geschenk der benachbarten Apotheke, als wollte er überprüfen, ob Tag und Datum übereinstimmten. »Bei mir vor dem Haus, im Old Wadia Chawl. Komm doch, und bring auch deine Mutter und deinen Bruder mit. Also – ich schau mir das später noch mal an. Ich soll um drei beim Partyservice sein. Und davor muss ich noch auf die Bank.« Er drehte das Gas ab und gab Tyson seine Milch, die der Hund unter einigem Gespritze gierig aufzuschlecken begann.
Phiroz verheiratete seine Tochter – heute folgte aber auch wirklich eine Neuigkeit auf die andere! Im Wissen darum, dass er bald kein Gehalt mehr haben würde, entledigte sich der Alte der Reihe nach seiner Verpflichtungen. Es war ja schön, dass Phiroz an seine Tochter, an Festmähler, an Gold dachte, aber das alles geschah auf Kosten von jemand anderem – von Arzee nämlich! Seine künftige Ehefrau, die sich gerade in Nasik die Haare kämmte oder Essen kochte, verschwand aus seinem Blickfeld wie die Sonne, die im Meer versinkt, während andererseits Mädchen wie Phiroz’ Tochter einen Ehemann vorgesetzt bekamen. Es hing alles zusammen, so wie Deepak es heute – ach was, vor zwei Stunden erst! – gesagt hatte. Arzee erkannte das Muster, sah, dass er selbst aus dem Bild gedrängt wurde.
»Und weißt du, was
ich
gedacht habe, Phirozbhai?«, sagte er mit einem schrillen Lachen. »Ich Trottel.
Ich Trottel!
Ich habe gedacht, dass –«
»Ich muss gehen«, erklärte Phiroz. »Alle warten auf mich.« Er trat zu den Gottheiten, betätigte einen Schalter, und die Lichterkette erlosch. Dann steckte er seinen
tiffin 3
in die Jutetasche, die auf dem Stuhl lag, und hängte sich die Tasche über die Schulter.
»Phirozbhai! Warte!«
»Morgen – wir können morgen reden. Es ist Zeit für den Film. Setz ihn in Gang.«
»Aber wir werden – ich werde –«
»Morgen!«, beharrte Phiroz. »Meine Tochter heiratet nur einmal. Versuch das zu verstehen. Und schau mal auf die Uhr! Es ist schon nach drei. Die Leute warten, und du bist gerade erst gekommen. Jeder andere Filmvorführer würde sich was schämen!«
»Ich –«
»Wiedersehen.«
Phiroz ging langsam die Treppe hinunter, wobei er immer denselben Fuß als ersten auf die nächste Stufe setzte, wie eine Statue, die gerade laufen lernt. Beine, Rumpf, Kopf – Stück für Stück verschwand er. Tyson, der seine Milch aufgeschlabbert hatte, folgte dem alten Mann, der ihn vor Jahren von der Straße geholt hatte, in großen Sätzen nach unten. Während er die Treppe hinuntersprang, landete ein Stückchen der abblätternden Wandfarbe auf seinem Rücken, und er trug es würdevoll hinaus. Arzee trat gegen den leeren Napf.
»Abgehauen«, dachte er. »Diese Mistkerle! Die stecken doch alle unter einer Decke! Sie sind alt und haben sich im Leben gut eingerichtet, und deshalb scheren sie sich nicht um die, bei denen es anders aussieht. Deswegen
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