Der kleine Koenig von Bombay
irgendwelche interessanten Dokumente oder Gegenstände entgegenfielen. Noch hatte er auch nur eine einzige Minute damit verbracht, sein Gesicht im Spiegel zu betrachten oder mit einer schwungvollen Handbewegung seine Frisur in Form zu bringen. Er hatte in den Pausen keines seiner Lieblingsstücke für das Publikum laufen lassen, noch hatte er während der Arbeit neu gelernte Dialogzeilen aus dem Film mitgesprochen. Er hatte nichts getan. Er hatte zu nichts Lust gehabt.
Ihm war der Schreck in die Glieder gefahren, das merkte er – kein Wunder an einem Weltuntergangstag wie diesem. Den ganzen Tag lang hatte er sich in einem Strudel imaginierter Unterhaltungen mit Abjani, Phiroz, sich selbst und Leutenaus der Vergangenheit gedreht. Aber was nützte das schon? Seine Anklagen und Vorwürfe erreichten nur ihn selbst, kosteten keinen seiner Gegner Geduld und Kraft, sondern nur ihn selbst. Und er musste am Leben bleiben, musste auf sich aufpassen! Wenn Ungemach heraufzog, das wusste er, war es nie der Pistolenschuss, der hitzige Moment des Unheils an sich, der die Gemütsruhe eines Menschen gefährdete, sondern es war die Art und Weise, wie das Denken wieder und wieder um das Gleiche kreiste, knisternd und schwelend wie ein Scheiterhaufen, der schließlich zu Asche zerfällt.
Doch diesmal war er nicht mehr der alte Arzee – das durfte er nicht vergessen! Er war nicht mehr so leicht aus der Fassung zu bringen – er schlug zurück, vergalt Gleiches mit Gleichem. Das hatte er erst heute Morgen mit Deepak bewiesen. In zwei Monaten konnte eine Menge passieren. Es wäre also dumm, vor der Zeit unterzugehen. Womöglich würde der drohende Moment irgendwie abgewendet werden, und alles würde wieder so sein wie eh und je. Was für ein Wunder das wäre! Wenn das geschähe, wenn irgendwie die alten Rahmenbedingungen seines Lebens wiederhergestellt werden könnten, dann würde er sich nie wieder über irgendetwas beklagen oder sich schlecht fühlen, egal was passierte. Selbst wenn Phiroz ins Noor zurückkehrte und leitender Filmvorführer blieb, bis er hundert war, würde er nichts sagen. Was er hatte – was er heute verloren hatte –, war genug.
Doch wie sollte es dazu kommen, wenn Abjani, Phiroz und die anderen nicht bereit waren, an die gemeinsame Sache zu denken? Im Gegenteil, sie ließen sich einfach überrollen. Ab jetzt würde er kein Wort mehr mit Abjani und Phiroz reden, damit sie wussten, was er von ihnen hielt. Und er würde auch nicht zur Hochzeit von Phiroz’ Tochter gehen. Sollte der Altedoch merken, dass er ihn nicht brauchte. Phiroz konnte bei seinem Festmahl gern allein essen, allein tanzen. Nach dem Untergang des Noor war jeder von ihnen allein.
»Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen«, dachte Arzee und blickte zum Mond hinauf. »Ich komme schon zurecht, bin mein Leben lang zurechtgekommen, sonst hätte ich es nicht so weit gebracht. Aber wer sagt das alles gerade? Das sage ich, während ich ganz allein nach Hause gehe und zu diesem Mond hinaufschaue. Bloß bin ich nicht allein, und die Welt ist nicht so still und leer wie jetzt im Moment. Die Welt ist elend, grausam und gemein! Sie hat Respekt vor der beruflichen Position: Solange man fest im Sattel sitzt, bricht sie nicht über einen herein. Verliert man aber seine Position, dann verliert man auch sich selbst. Wenn eine Liebe zerbricht, verliert man sich auch, aber dann geht man wenigstens zitternd vor Wut in die Welt zurück und verwandelt den Streit mit der einen in einen Streit mit allen. Niemand wusste davon – es war etwas zwischen ihr und mir. Aber diesmal wird die ganze Welt Bescheid wissen! Sie werden wissen, dass ich vom Thron gestoßen worden und unters Fußvolk geraten bin. Und sie werden wiehern vor Freude, weil ich ihnen gegenüber die ganze Zeit so überheblich war. Aber das ging nicht anders … Ich musste so sein, um einfordern zu können, was ich sonst nicht bekommen hätte. Eine schöne Bescherung! Und das alles bloß, weil ich nur einen Meter groß bin, alles bloß wegen diesen verfluchten Beinen, die mich nicht höher emporheben, so dass ich die Scheiße und den Mist auf der Straße riechen und mit all den Ärschen und Säcken dieser Welt plaudern kann. Trotzdem, um mich selbst mache ich mir keine Sorgen. Ich komme schon zurecht – Hauptsache Mutter erfährt nichts davon.«
Er wusste, dass er jetzt ein erwachsener Mann war. In seinem Alter sollte es eigentlich keine Rolle mehr spielen, was seine Mutter sagte oder tat. Aber bei
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