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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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ist es mit der Weltso weit gekommen – weil sich keiner um die anderen schert! Nein, ich weiß doch, das ist alles nur ein Traum, in dem die schlimmsten Ängste an die Oberfläche kommen. – Nein, es ist kein Traum, genauso wenig wie das Leben ein Traum ist! Es ist die Realität. Was soll ich jetzt tun? Ich …«
    »Ich …«
    »Verdammt, ich kann nicht denken! Mein Gehirn funktioniert nicht mehr! Ich bin in einem Raum, das ist der Projektor, das sind die Wände, dort ist das Fenster … Heute ist der dreizehnte, ich habe am vierundzwanzigsten November Geburtstag. Dieser Kopfschmerz bohrt mir noch ein Loch in den Schädel!«
    Buhrufe und Pfiffe drangen aus dem Zuschauerraum nach oben. Er hatte den Film vergessen! Tja, dann war er halt zu spät dran – na und? Sollten sie doch alle schimpfend und fluchend rausrennen und ihr Geld zurückfordern. Sollte Abjani ihn doch feuern. Er würde alles kaputtschlagen, bevor er ging, alles zu Kleinholz machen.
    Aber der Reflex war zu stark. Die vorderste Priorität für einen Filmvorführer, ob tot oder lebendig, ist die Aufführung des Films. Sie durfte nicht leiden, genauso wenig wie Kinder leiden durften. Sich selbst verfluchend, eilte Arzee zum Diaprojektor und schaltete ihn ein, worauf der mit grünem Filzstift in Phiroz’ zittriger Handschrift geschriebene Satz »Bitte erheben Sie sich zur Nationalhymne« auf der Leinwand erschien. Er hörte, wie unten die Männer murrend aufstanden. Arzee setzte das Band mit »Jana Gana Mana« in Gang und schaltete alle Netzschalter ein. Dann rannte er zum Filmrollenschrank und zog die erste Rolle von
Saathi
heraus. Die Nationalhymne setzte mittendrin ein, so dass einige der hehren Gefühle und die Hälfte der aufgezählten Völker undRegionen fehlten. Phiroz hatte das Band nicht ordentlich zurückgespult!
    Der Babur erwachte bebend zum Leben. Immer noch fluchend, sprang Arzee auf einen Hocker neben dem Apparat, setzte die Filmrolle auf den Abwickelarm und schloss die Filmtür. An beiden Enden des Projektors drang das helle Licht der Bogenlampe nach außen, und mit einem Summen und Klacken setzte sich der Mechanismus in Bewegung. Im Zuschauerraum wummerte die Filmmusik los. Arzee trat ans Kabinenfenster und sah, dass der Lichtstrahl durch den riesigen Raum geworfen wurde. Das Bild war etwas unscharf. Murmelnd nahm er ein paar Korrekturen vor, dann linste er erneut hinaus und war zufrieden. Lange stand er so da, das Gesicht an die Dunkelheit hinter der Scheibe gepresst, und sah zu, wie die vergänglichen goldenen Lichtpartikel gleich Glühwürmchen hinausschwebten.
    Der große Lichtstrahl … was für Wunder er bewirkte! Wie Arzee nicht müde wurde, jenen zu erklären, die meinten, einen Film vorzuführen sei auch nicht viel anders als Seife zu verkaufen oder Zahlen in ein Hauptbuch einzutragen, waren die Bogenlampen des Babur so stark, dass sie ein Bild vom Format eines Passfotos in
dreitausendfacher
Größe auf die Leinwand projizieren konnten. Die Reichweite des Babur betrug fünfundvierzig Meter – es war schwierig, einen Cricketball so weit zu werfen, und hier war das, was geworfen wurde, auch noch schwerelos! Die sprechenden, sich bewegenden Figuren auf der großen Leinwand, bunter, schärfer, wirklicher als die Wirklichkeit, waren tatsächlich nicht mehr als Licht auf einem schwarzen Streifen! Er liebte den großen Apparat – und zwar schon seit er das erste Mal als Dreizehnjähriger auf seinen besonderen, von Mutter übermittelten Wunsch hieroben in diesem Raum gewesen und von Phiroz in die Geheimnisse des Babur eingeweiht worden war. Das Geräusch des im Babur transportierten Films war wie das Geräusch der Gedanken in seinem Kopf, wenn sein Gehirn heiß lief.
    »Aus!«, dachte er und erschauerte. »Diesmal ist es endgültig vorbei! Man hat mir alles genommen. Und ich war auch noch selbst daran beteiligt – ich habe meinen Untergang mit verursacht, weil ich dachte, ich würde siegen! Seit zwei Tagen schwindelt mir vor Glück, schwebe ich vor Wonne. Und wofür? Dafür!«
    Draußen wurde es mit einem Mal dunkler, und Arzee trat über trockenes Laub, Vogelfedern und Zelluloidschnipsel ans Fenster. Nach einem regnerischen Tag hatte sich der Regen schließlich gelegt, doch jetzt nahm eine dicke Wolke, eine schwarze Wand so groß wie die weiße Leinwand des Noor, den Himmel ein. Arzee sah, wie sich die Lippen der Menschen unten auf der Straße bewegten, sah sie über unnötige, unwichtige Dinge reden – die hatten keine Ahnung vom

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