Der kleine Koenig von Bombay
Mutter tat es das irgendwie doch – da er noch zu Hause lebte, war es unmöglich, Mutter zu ignorieren! Mutter liebte sowohl ihn als auch Mobin, aber ihn mehr als Mobin, nicht nur, weil er ihr Erstgeborener war, sondern auch, weil er es im Leben immer schwerer gehabt hatte. Jeder Körper kam aus einem anderen Körper, und sein eigener, unglückseliger, verstümmelter Körper war aus dem Körper seiner Mutter gekommen. Arzee hatte einen besonderen Platz in Mutters Herzen, das wusste er – und er war dankbar dafür. Aber es war eine so schwierige Liebe! Sie nahm auf solch besitzergreifende Weise Anteil an seinem Leben! Sie wollte so viel und verstand so wenig davon, was es hieß, ein Mann zu sein! War so voll von abstrusen Vorstellungen! Achtete weder seine Rechte noch sein Alter! War so überspannt! Für Mutter gab es keinen Unterschied zwischen Reden und Denken. Was sie im einen Moment im Kopf hatte, das ging ihr im nächsten Moment über die Lippen – sie ließ alles raus, machte sich Luft, und ihr Gegenüber musste mit seinem Kopf und seinen Ohren dafür herhalten.
»Sie wird es nicht verkraften, wenn ich ihr erzähle, was mir bevorsteht«, dachte Arzee. »Sie wird meinen Schmerz für mich mitempfinden, und meine Probleme werden sich verdoppeln. Sie wird mich wieder zum Kind machen – den ganzen Tag wird es heißen: Arzoo dies und Arzoo das. Aber wenn ich es ihr nicht erzähle, wird sie weiterverfolgen, was sie sich für mich ausgedacht hat. Das ist auch so ein Problem! Ich verliere gerade meine Verbindungen, und sie versucht, welche für mich herzustellen. Ich stecke in der Sackgasse, und sie versucht, etwas für einen Sohn auszuhandeln, der ihr gesagthat, er sei auf dem Weg nach oben! Egal wie, ich stecke in gewaltigen Schwierigkeiten! Ich wünschte, ich lebte allein und hätte niemanden auf dieser Welt!«
Und es war keineswegs so, dass er diese Gedanken zum ersten Mal dachte – genau diese Gedanken hatte er heute schon so oft gedacht! Aber da er nichts anderes zu tun hatte, kam er immer wieder darauf zurück, wie der Minutenzeiger einer Uhr, während der Rest der Welt sich mit dem Stundenzeiger vorwärtsbewegte. Arzee hatte genug von sich selbst – nur war er natürlich die eine Person in seinem Leben, der er nicht entkommen konnte.
»Ich muss ins Bett«, dachte er, »sonst hört das nie auf.« Er beschleunigte seinen Schritt.
Hinter sich hörte er ein lauter werdendes Rumpeln, und dann schrak er zusammen, als ein Taxi hupend an ihm vorbeischoss. Heutzutage drückten die Autofahrer aber auch wirklich nach Lust und Laune auf die Hupe! Als hätte es Arzees Protest vernommen, hielt das Taxi mit quietschenden Reifen an und raste dann im Rückwärtsgang zu ihm zurück. Arzee war alarmiert – hoffentlich hielt ihn der Fahrgast nicht für einen Liebesdiener. Doch irgendwie war der Anblick des schlingernden Taxis, dessen Auspuffrohr wild schlenkerte wie ein Penis in einem Pornofilm, so ulkig, dass Arzee in schallendes Gelächter ausbrach.
Während der Wagen sich näherte, schaltete der Fahrer die blaue Innenbeleuchtung an. An seinem ergrauten Schädel erkannte Arzee ihn sofort.
»Dashrath Tiwari!«
Der Wagen hielt neben Arzee an, Dashrath Tiwari beugte sich zu ihm herüber und sagte in gemessenem Ton, so als hätte er diese Sätze den ganzen Abend einstudiert: »Ichwollte eigentlich nach Hause fahren, doch dann habe ich mich eines Sprichworts entsonnen, das da lautet: ›Fahr nie an einem Freund vorbei, ohne ein paar Worte mit ihm zu wechseln, denn sonst wird er eines Tages das Gleiche tun.‹ Schone deine Beine für eine andere Gelegenheit, mein Freund. Steig ein.«
»Das Bedauerliche ist, dass kein Motor und keine Räder mich an den Ort bringen können, an dem ich gern wäre«, sagte Arzee wie aus der Pistole geschossen, denn er wusste, dass Dashrath weitschweifige Formulierungen und poetische Zweideutigkeiten liebte. Er war so froh, Dashrath zu sehen, dass ihm die Worte ganz spontan und mühelos von der Zunge gingen. »Am liebsten nämlich führe ich zu dem Ort, von dem ich gerade komme, doch die Welt hat mir beschieden, dass mein Wunsch nicht gewährt werden kann.«
»Schön, sehr schön!«, sagte Dashrath. »Welche Freude, dich zu sehen, Arzee, mein Freund – welche Freude, zur Abwechslung mal wieder wahres Können zu erleben! Komm, ich fahre dich irgendwohin, wo wir eine Tasse Tee trinken und ein wenig plaudern können – natürlich nur, sofern du nicht woandershin unterwegs bist.«
»Bin ich
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