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Der kleine Mann

Der kleine Mann

Titel: Der kleine Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kästner
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stutzte sie, drehte sich nach allen Seiten um und fragte: „Wer hat mir denn da eben Gesundheit gewünscht?“
    „Ich!“ rief Mäxchen fidel. „Aber Sie können mich nicht sehen, weil ich nur fünf Zentimeter groß bin und auf Ihrem Mantelkragen sitze.“
    „Falle bloß nicht ‘runter!“ sagte sie besorgt und trat dicht an das spiegelnde Schaufenster heran. „Ich glaube, jetzt seh ich dich. Junge, Junge, bist du aber winzig! So etwas gibt’s nicht alle Tage! Willst du mit mir nach Hause kommen? Hast du Hunger? Bist du müde? Tut dir der Bauch weh? Soll ich dir bei mir vielleicht eine Wärmflasche machen?“
    „Nein“, erklärte Mäxchen. „Sie sind furchtbar nett, aber mir fehlt nichts. Ich möchte nur, daß Sie mich nebenan in die erste Etage tragen und links bei dem Doktor Wachsmuth klingeln. Klingelknöpfe sind für mich zu hoch.“
    „Wenn’s weiter nichts ist!“ meinte Frau Holzer resolut, marschierte in den Hausflur, stapfte treppauf und drückte im ersten Stock auf die Klingel. Dabei las sie das Schild. „Was es so alles gibt“, sagte sie. „Ein Facharzt für Unzufriedene?“ Sie lachte. „Der würde an mir nicht reich! Von mir aus könnte der Mann...“
    Doch bevor sie mitteilen konnte, was der Medizinalrat von ihr aus könne, öffnete sich die Tür, und sie erblickten einen alten Herrn im weißen Arztkittel und mit ungeheuer viel Bart im Gesicht. Er musterte Frau Holzer kurz vom Scheitel bis zur Sohle und schüttelte den Kopf. „Sie haben sich wohl in der Tür geirrt?“ fragte er finster.
    „Sie sehen so zufrieden aus, daß mir sämtliche Hühneraugen wehtun.“
    Sie lachte ihm mitten ins Gesicht. „Herrje, sind Sie ein Giftpilz!“ rief sie. „Sie sollten mal zum Arzt gehen! Beispielsweise zum Doktor Wachsmuth!“
    „Wäre zwecklos“, brummte er. „Ich kann allen Leuten helfen, nur mir selber nicht.“
    „So sind die Ärzte“, meinte Frau Holzer und wollte weiterreden. Doch sie mußte wieder niesen.
    „Gesundheit, Frau Holzer!“ sagte der Kleine Mann. Da machte der Medizinalrat Stielaugen. „Teufel, Teufel“, knurrte er, „das ist ein Patient nach meinem Geschmack!“ Und schon hatte er Mäxchen gepackt und Frau Holzer die Tür vor der Nase zugeschlagen.

    „Warum bist du unzufrieden?“ fragte der Arzt, als sie im Ordinationszimmer waren.
    „Ich möchte größer sein“, gab Mäxchen zur Antwort. „Wie groß?“
    „Das weiß ich nicht.“
    „Es ist immer dasselbe Theater“, knurrte der Medizinalrat. „Jeder weiß, was er nicht will. Aber was er stattdessen will, das weiß keiner.“ Er holte mehrere bunte Arzneifläschchen aus dem Glasschrank und ergriff einen Löffel. „Wie wär’s mit zwei Meter fünfzig?“ fragte er trocken. „Noch größer kann ich dich nicht machen, sonst stößt du an die Zimmerdecke. Nun? Heraus mit der Sprache!“
    „Zwei Meter fünfzig?“ Der Kleine Mann blickte ängstlich zum Kronleuchter hinauf. „Und wenn es...wenn es mir...wenn es uns nachher nicht gefällt?“
    „Dann geb ich dir ein Gegenmittel, und du wirst wieder kleiner.“
    „Also gut“, sagte Mäxchen mit zitternder Stimme. „Probieren wir’s bitte mit zwei Meter fünfzig!“
    Der Medizinalrat brummte allerlei in seinen struppigen Bart, schwenkte aus einer grünen Flasche ein paar Tropfen auf den Löffel und befahl: „Mund auf!“
    Der Kleine Mann sperrte den Mund weit auf und spürte eine brennende Flüssigkeit auf der Zunge.
    „Hinunterschlucken!“
    Der Kleine Mann schluckte den grünen Saft hinunter. Er brannte in der Kehle und rann wie Feuer bis in den Magen.
    Der Struwwelbart blickte den Jungen mit funkelnden Augen an und murmelte: „Gleich geht’s los!“ Und er hatte recht.
    Plötzlich donnerte es in Mäxchens Ohren. Es zerrte an seinen Armen und Beinen. Die Rippen schmerzten. Die Haare und die Kopfhaut taten weh. Es knackte in den Kniescheiben. Vor den Augen drehten sich Kreise, so bunt wie der Regenbogen, und hundert silberne und goldene Kugeln und Sterne tanzten mittendrin. Er konnte mit knapper Not seine Hände erkennen. Sie wuchsen und wurden immer länger und breiter. Das sollten seine Hände sein?
    Schon sah er verschwommen, daß der Glasschrank kleiner wurde, und der Wandkalender senkte sich tiefer und tiefer. Dann klirrte es ein bißchen, weil er mit der Nasenspitze an den Kronleuchter gestoßen war. Und schließlich gab es einen Ruck wie in einem Fahrstuhl, der zu rasch gestoppt wird!
    Die bunten Räder vor den Augen drehten sich langsamer. Die

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