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Der kleine Mann

Der kleine Mann

Titel: Der kleine Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kästner
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Kugeln und Sterne hörten mit ihrem Tanz auf. In den Ohren verebbte der Donner. Die Haare taten nicht länger weh. Die Glieder schmerzten nicht mehr.
    Und die Stimme des Medizinalrats sagte befriedigt: „Zwei Meter fünfzig.“
    Aber wo war er denn, der Doktor Struwwelbart mit dem griesgrämigen Gesicht? Mäxchen blickte sich suchend um. Er hatte die Gardinenstange dicht vor der Nase. Der Kronleuchter, der noch ein wenig klirrte und schwankte, hing in Mäxchens Brusthöhe. Oben auf dem Schrank lag fingerdicker Staub. Und Staub lag auch auf der weißlackierten Holzleiste, die, einen halben Meter unter der Zimmerdecke, die gelbe Tapete abschloß. In der Ecke hoch über der Tür krabbelte eine schwarze Spinne in ihrem Netz. Mäxchen wich entsetzt zurück. Dabei stieß er mit der Hand gegen ein hohes Bücherregal, und aus der obersten Reihe fiel ein Buch zur Erde.

    Der Doktor Struwwelbart lachte. Es klang, als meckere ein alter Ziegenbock. Dann rief er spöttisch: „Ist es denn die Möglichkeit? Ich verwandle ihn in einen Riesen, und der Riese erschrickt vor einer Spinne!“
    Mäxchen blickte wütend zu dem Schreibtisch hinunter. Der Medizinalrat meckerte noch immer. „Warum lachen Sie mich aus?“ fragte der Kleine Mann, der plötzlich so groß war. „Schließlich bin ich kein gelernter Riese, sondern war bis vor kurzem nur fünf Zentimeter lang! Haben Sie noch nie gezittert?“
    „Nein“, sagte der Struwwelbart. „Niemals. Ich habe Angst nicht nötig. Wenn mich ein Löwe anspränge, verhexte ich ihn, noch im Sprunge, in einen Buchfinken oder in einen Zitronenfalter.“
    „Dann sind Sie gar kein Medizinalrat?“
    „Nein. Ich bin auch kein Zauberkünstler wie dein
    Jokus.“
    „Sondern?“
    „Ich bin ein richtiger und ganz echter Zauberer.“
    „Oha“, flüsterte Mäxchen. Er hielt sich vor Schreck am Schrank fest. Und weil der Schrank wacklig war, zitterten beide, der Schrank und der Riese Max.
    „Setz dich auf den Stuhl, damit du in den Spiegel schauen kannst!“ befahl der Zauberer. „Du weißt ja noch gar nicht, wie du jetzt aussiehst.“
    Mäxchen nahm Platz, blinzelte in den Spiegel, zuckte zusammen und rief außer sich: „Um alles in der Welt! Das bin ich? Das soll ich sein?“ Er hielt entsetzt die Hände
    vor die Augen.
    „Ich finde dich recht passabel“, bemerkte der Zauberer. „Aber deinen eignen Geschmack, den scheinen wir nicht getroffen zu haben.“
    Mäxchen schüttelte den Kopf wie wild und murmelte verzweifelt: „Ich finde mich abscheulich. Eine Giraffe ist
    nichts dagegen!“
    „Wie groß möchtest du denn statt dessen sein?“ fragte der Zauberer. „Aber überlege dir’s diesmal gründlicher!“
    „Ich wußte es von Anfang an“, sagte Mäxchen zerknirscht. „Doch dann packte mich die Neugierde, und jetzt könnte ich mich links und rechts ohrfeigen.“
    „Wie groß willst du sein?“ fragte der Struwwelbart energisch. „Rede nicht um den heißen Brei herum!“
    „Ach“, seufzte Mäxchen, „ach, Herr Zauberer, — ich möchte so groß sein wie jeder normale Junge in meinem Alter! Nicht größer und nicht kleiner und nicht dicker und nicht dünner und keine Sehenswürdigkeit wie eine seltene Briefmarke oder ein Kamel mit drei Höckern und nicht frecher und nicht ängstlicher und nicht dümmer oder gescheiter und...“
    „Na schön“, knurrte der Zauberer und griff nach einer roten Flasche und dem Löffel. „Ein ganz normaler Bengel willst du werden? Nichts ist leichter. Sperr den Mund auf!“
    Mäxchen, der zweiundeinenhalben Meter große Riese, sperrte brav den Mund auf und schluckte den dicken roten Saft. Er leckte sogar den Löffel ab.
    Und schon sauste und donnerte es in seinen Ohren. Der Kopf tat weh. Die Rippen und die Gelenke zwickten und krachten. Das Herz klopfte. Die bunten Kreise wirbelten vor seinen Augen wie ein Feuerwerk.
    Und dann wurde es still.
    „Schau in den Spiegel!“ befahl der Zauberer.
    Mäxchen traute sich kaum. Er hob die Lider nur ein paar Millimeter. Doch dann riß er die Augen weit auf, sprang vom Stuhl hoch und warf, mit einem Jubelschrei, die Arme in die Luft. „Ja!“ schrie er aus Leibeskräften. „Ja! Ja! Ja!“

    Und im Spiegel hatte ein Junge die Arme in die Luft geworfen. Ein hübscher Junge von zwölf oder dreizehn Jahren. Mäxchen lief zum Spiegel hin und schlug mit beiden Händen gegen das Glas, als wolle er das Spiegelbild umarmen. „Das bin ich?“ rief Mäxchen.
    „Das bist du“, sagte der Zauberer krächzend und lachte.

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