Der Kleine Prinz Kehrt Zurück
vergewisserte er sich, »ich brauchte dich nur zu fragen, und du zeigst mir, wo ich einen Tiger..., äh, eine tigerjagende Person finden kann?«
Der Mann hüstelte.
»Ahm... naja... So einfach ist das auch wieder nicht. Da wären noch bestimmte Formalitäten zu berücksichtigen.«
»Ja?«
»Ja. Zuerst mußt du das Formular AZ270350b in drei Ausfertigungen ausfüllen und ein Exemplar bei der Geschäftsführung einreichen, das zweite bei der Rechtsabteilung und das dritte bei der Bewilligungsabteilung, die prüft, ob dein Antrag zugelassen wird. Sofern dein Ansuchen positiv beschieden wird, geht der Antrag an die Verwaltung, die für die Festlegung der Prioritäten zuständig ist. Wenn das erledigt ist, wird der Vorgang dem Bürovorsteher übergeben, und der muß dann nur noch einen geeigneten Verwalter damit beauftragen.«
»Dauert das lange?«
»Selten mehr als drei Monate, vielleicht sogar weniger.«
»Es ist nur... ich habe es ziemlich eilig«, sagte der kleine Prinz. »Ich brauche die Antwort gleich. Du bist doch selbst Verwalter - könntest du mir nicht helfen?«
»Also... ahm... das wäre gegen die Vorschrift. Tigerjagende Personen gehören nicht zu meinem Zuständigkeitsbereich. Außerdem gibt es ein bestimmtes Procedere, einen Instanzenweg, der eingehalten werden muß. Wenn alle tun würden, was ihnen gerade einfällt, hätten wir hier bald die Anarchie. Das ganze Universum würde im Chaos versinken, und außerdem ist meine Zeit bemessen. Ich bin sehr beschäftigt. Siehst du nicht, wieviel Arbeit noch auf mich wartet?«
Hektisch griff der Verwalter nach einem Aktenstoß, um ihn woanders hinzulegen. Dann beugte er sich nach unten, hob ein auf dem Boden liegendes Heft auf, das mit vielen roten Schildchen beklebt war, und fügte es dem Stapel mit der Aufschrift »Eilig« hinzu.
»Warum tust du das?« erkundigte sich der kleine Prinz.
»Ein fähiger Verwalter muß gut organisieren können, wenn er nicht unter seinen Aufgaben zusammenbrechen will. In diesem Beruf ist eine gute Planung das Geheimnis des Erfolgs. Leider beansprucht die Organisation meine ganze Zeit. Es bleibt nicht genug übrig für die eiligen Angelegenheiten. Deshalb werden sie immer eiliger, bis alle Fristen abgelaufen sind.
Dann sind sie überhaupt nicht mehr eilig. Aber keine Angst, es kommen ständig neue. Übrigens, nimm mir meine Neugier bitte nicht übel, aber was hast du in dieser Kiste?«
»Ein Schaf«, sagte der kleine Prinz.
Der Verwalter schrie entsetzt auf.
»Diese Pest! Diese Brut! Dieses unter allen Arten verdammte Geschlecht! Weißt du denn nicht, daß selbst erfahrene Verwalter vom bloßen Anblick eines Schafs in eine Art Trance versetzt werden, eine Zählmanie, die in dumpfe Lethargie mündet, aus der nur wenige wieder erwachen? Einstmals blühende Unternehmen sind innerhalb eines einzigen Tages zusammengebrochen, weil die Verwalter in völliger Selbstüberschätzung dachten, sie könnten dem verderblichen Einfluß dieser vermaledeiten Bestien widerstehen. Man fand sie an ihrem Schreibtisch, völlig leer, ihr Geist war erloschen wie eine Kerze, der man die Flamme ausgepustet hat, unverständliches Gebrabbel von sich gebend. Geh weg von hier! Fort, fort, bevor es mich packt!«
Der kleine Prinz gehorchte, verwundert, was für ein furchterregender Abgrund sich hinter der Sanftmut eines so harmlosen Tiers auftun sollte - aber ihm fehlte eben die Weisheit eines Verwalters.
Hier unterbrach der kleine Prinz noch einmal seinen Bericht. Daß ein so kleiner Kerl über eine solche Vorstellungskraft verfügte, wollte mir nicht in den Kopf.
Vielleicht, lieber Herr von Saint-Exupery, war das der Grund dafür, daß ich allmählich das Gefühl hatte, er könnte die Wahrheit sagen, obwohl es jedweder Logik Hohn sprach.
Der Tag neigte sich dem Ende zu. Um meinen jungen Gefährten zu zerstreuen, schlug ich vor, den Sonnenuntergang zu betrachten. Das Atoll war so winzig, daß man zusehen konnte, wie das Gestirn, nachdem es strahlend auf einer Seite dem Ozean entstiegen war, am Ende seines glanzvollen Laufs von Ost nach West auf der anderen Seite glühend darin verlosch.
»Das erinnert mich an zu Hause«, sagte der kleine Prinz. »Nur daß man auf meinem Planeten nicht so lange warten muß, bis die Sonne untergeht.«
Bei dieser Erinnerung wurde er ganz schwermütig. Vermutlich dachte er an seine Rose und an die Gefahren, denen sie ausgesetzt war: an den Tiger, dessen Zähnen und Klauen ihre zarten Stacheln nicht gewachsen waren, und an die
Weitere Kostenlose Bücher