Der Kleine Prinz Kehrt Zurück
vergebens. Ihr
Stengel war durch die Tritte an mehreren Stellen gebrochen. Nie
mehr würden ihre samtigen Lippen den Morgentau schlürfen,
nie mehr würde sie sich der Liebkosung der Sonne öffnen. »Wie konntest du so etwas Schreckliches tun?« fragte er mit
bebender Stimme.
»Sie konnte nicht grün sein, hast du selber gesagt. Und wer
nicht grün ist, gehört zu den Roten«, erwiderte der Grünrock
ungerührt.
»Was für eine Dummheit!«
»Willst du damit vielleicht behaupten, daß es etwas
Wichtigeres gibt als die Farbe?« erkundigte sich der Grünrock
mißtrauisch.
»Aber ja!« rief der kleine Prinz. »Zärtlichkeit und
Freundschaft zum Beispiel.«
Die Augenbrauen des Grünrocks senkten sich und pflügten
tiefe Furchen in seine Stirn. Sein Gewehr richtete sich halb auf. »Für einen Grünen schwingst du hier ziemlich subversive
Reden, Freundchen«, sagte er. »Steckst du vielleicht mit dem
Feind unter einer Decke?«
»Von wem sprichst du?«
»Von den Roten natürlich.«
»Warum bist du so böse auf sie? Was haben sie dir denn
getan?«
»Nichts. Sie sind rot, ich bin grün, das liegt in unserer Natur.
Die Grünen sehen rot, wenn sie Rote sehen, und die Roten sind
uns auch nicht grün. Alles ist klar abgegrenzt durch diese Linie
und säuberlichgetrennt. Nur du stiftest Verwirrung, Kamerad.
Ich glaube, es ist besser für dich, wenn du verschwindest, bevor
du dir Ärger einhandelst.«
Der kleine Prinz hätte ihn gern davon überzeugt, daß er im
Unrecht war. Doch er mußte einsehen, daß das Herz mit all
seiner Großmut und Tapferkeit nichts gegen verstockte Köpfe
ausrichten kann, die Waffen brauchen, um ihre Ziele zu
erreichen. Enttäuscht verließ er den Planeten.
Der kleine Prinz war von diesem Erlebnis ziemlich mitgenommen. Sicher, er hatte schon die Dummheit kennengelernt und die Bosheit, denn es gibt keine Vollkommenheit auf dieser schnöden Welt, aber noch nie war er einem so abgrundtiefen, alle Fasern der Seele durchdringenden Haß begegnet.
Jedem, der den Haß noch nicht erfahren hat, wäre es sicher ebenso ergangen, nicht wahr, Herr von Saint-Exupery?
Nach diesem Schrecken und den vielen Enttäuschungen sehnte sich der kleine Prinz nach einem freundlicheren Ort, an dem er sich ein wenig ausruhen und wieder zu Kräften kommen könnte.
Er fand einen Planeten mit einem blumendurchwirkten grünen Teppich. Vogelchöre wetteiferten fröhlich in den Wipfeln hoher Bäume, und Bäche huschten glucksend über glatte Kiesel.
Der kleine Prinz streckte sich im Gras aus und schlief vor lauter Erschöpfung auf der Stelle ein.
Ein Kitzeln an der Wange weckte ihn aus seinem Schlummer. Als er die Augen aufschlug, blickte er ins Gesicht eines Mädchens.
»Guten Tag«, sagte das Mädchen.
»Guten Tag«, sagte der kleine Prinz und richtete sich auf.
»Ich wollte dich nicht wecken«, sagte das Mädchen. »Du hast so tief geschlafen. Ich habe gewartet und dachte: Da ist ein kleiner Junge, den ich noch nie gesehen habe. Wer ist das? Dann habe ich es vor Neugier nicht mehr ausgehalten und deine Wange berührt. Davon bist du aufgewacht. Woher kommst du?«
Der kleine Prinz hob den Arm und zeigte in den Himmel.
»Von dort«, sagte er »Von weither.«
»Sieht dein Planet so aus wie meiner?«
»O nein! Auf meinem Planeten gibt es nur eine Blume, aber
dafür drei Vulkane und einen Tiger.«
Das Mädchen machte große Augen und schlug die Hand vor den Mund.
»Einen Tiger!« rief sie. »Das ist ja schrecklich! Du mußt sehr mutig sein, wenn du es mit ihm aushältst!«
Der kleine Prinz errötete. Wenn er so mutig gewesen wäre, es mit dem Untier aufzunehmen, wäre er dort geblieben. Er schämte sich für seine Feigheit, obwohl ihn ja eigentlich die Rose fortgeschickt hatte.
»Nein«, gab er freimütig zu, »ich bin nicht sehr mutig. Ich hatte Angst, daß der Tiger mein Schaf frißt. Deshalb bin ich weggegangen. Ich suche einen Jäger, der mir hilft, ihn loszuwerden.«
»Auf diesem Planeten wirst du keinen finden. Hierbin nur ich... war nur ich«, sagte das Mädchen und errötete. »Aber jetzt bist ja du da.«
Der kleine Prinz stand auf und klopfte seinen Umhang ab. Der Tag hätte nicht schöner sein können.
»Warum läßt du dein Schaf nicht heraus, damit es sich ein bißchen austobt?« schlug das Mädchen vor. »Wir gehen inzwischen spazieren und unterhalten uns.«
Kaum hatte der kleine Prinz das Schaf aus seiner Kiste befreit, widmete es sich der Aufgabe, das Gras auf eine vernünftige Höhe zu stutzen. Das Mädchen rannte in die
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