Der Knochendieb
Vorstellung brachte ihn einen Moment lang aus dem Konzept, doch schon bald kehrte seine Entschlusskraft zurück.
Er trat neben das Mädchen am Ufer.
»Hallo Monique«, sagte er.
»Hallo.«
»Oder soll ich dich Arielle nennen?«
»Arielle? Warum denn Arielle?«
»Weil du genauso aussiehst wie die kleine Meerjungfrau.« Er grinste.
10. KAPITEL
Seit die Sonne über den Horizont gestiegen war, verbarg sie sich hinter bleigrauen Wolken. Die aufgewühlte Brandung, deren Wellen braun von Schlamm und dunklen Muscheln waren, toste an den Strand und lud verschmutztes
Salzwasser ab. Obwohl der Tag längst angebrochen war, waren keine Möwen am Strand.
Begleitet von ihrem Labrador lief eine Joggerin über den Plankenweg, ohne die brodelnde See und deren trübe Wellen zu beachten. Das Fehlen der Möwen befremdete sie allerdings etwas. Auch sie waren stets ihre Laufgefährten gewesen und hatten sie bei ihren morgendlichen Mühen willkommen geheißen. Aber nicht heute.
Ohne Vorwarnung riss sich der Labrador von der Leine los und rannte zur Treppe des Plankenwegs, ehe er zum Strand hinunterschoss und unter die Planken kroch. Die Joggerin steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen grellen Pfiff aus, doch der Hund reagierte nicht. Auf der Suche nach ihrem Hund rannte sie die Treppe hinunter. Und dort, unter den Planken, fand sie die Möwen. Sie kreischten frech, flatterten ihr ins Gesicht und verspritzten in alle Richtungen etwas, das wie Blut aussah. Der Lärm, den das Flügelschlagen und das aufgeregte Geschrei der Möwen verursachten, war ohrenbetäubend und beängstigend zugleich. Die Joggerin war wie gelähmt vor Angst. Erneut steckte sie zwei Finger in den Mund, doch es kam kein Pfiff heraus.
»Brandy!«, flehte sie. »Brandy, bitte!«
Der Hund tauchte mitten unter den blutbeschmierten Vögeln auf. Die Joggerin fiel auf die Knie und schlang die Arme um den Labrador. Da sah sie es. Zwischen den weißen Eckzähnen klemmte ein Schatz, den ihr Hund den Möwen abgejagt hatte.
»Weg damit, Brandy. Pfui, weg damit«, befahl sie.
Der gehorsame Hund ließ die Trophäe fallen. Und da erkannte die Joggerin auf einmal, was ihr Hund apportiert hatte. Es war eine frisch abgerissene menschliche Brust,
deren Warze mit einem winzigen glitzernden Goldring geschmückt war. Die Frau schrie auf. Sie packte ihren Hund am Halsband, zerrte ihn unter den Planken hervor und stieß erneut einen Schrei aus. Doch beide Schreie gingen im Gebrüll der hysterischen Möwen unter.
11. KAPITEL
Ein Blick in den Rückspiegel des Chevrolet Impala sagte Driscoll, dass er sich dringend rasieren musste. Er kramte seinen schnurlosen Braun-Rasierer aus dem Handschuhfach und betete darum, dass der Akku nicht leer war. Vergebens.
Er warf den Rasierer ins Handschuhfach und fuhr in Richtung der Strandpromenade Beach Siebenundsechzigste Straße in Rockaway, wo - wie er fürchtete - Opfer Nummer zwei gefunden worden war. Beim Überqueren der Marine Parkway Bridge dachte er nach. Es war die gleiche Vorgehensweise wie bei Deirdre McCabe. Kopf, Hände und Füße des Opfers fehlten. Diese Besonderheit des ersten Verbrechens hatte man den Medien vorenthalten, sodass es kein Nachahmungstäter gewesen sein konnte. Beide Taten mussten das Werk desselben Mannes sein. In New York lief ein Serienmörder frei herum, davon war Driscoll überzeugt. Und es war seine Aufgabe, ihn zu finden, bevor er erneut zuschlug.
An der Strandpromenade angekommen, stieg er aus und ging eilig auf die hölzerne Treppe zu, die zum Strand führte. Der Leichenfundort war mit gelb-schwarz gestreiftem Absperrband gesichert. Eine kleine Schar Schaulustiger hatte sich außen herum versammelt.
»Was haben wir?«, fragte Driscoll den ärztlichen Leichenbeschauer Larry Pearsol.
»Unser Mann hält sich für einen Künstler. Die hier hat er filetiert und ihre Überreste an die Unterseite des Plankenwegs genagelt.« Pearsol zeigte auf den Hohlraum, vor dem zwei uniformierte Beamte des 100. Reviers Wache standen. »Wir mussten ein kleines Bataillon Polizisten im Kampfanzug anrücken lassen, um die verfluchten Möwen da unten rauszukriegen. Für die war die faulige Leiche ein Festschmaus.«
»Todeszeitpunkt?«
»Dazu kann ich erst mehr sagen, wenn ich sie auf dem Tisch liegen habe. Vermutlich ist sie seit mindestens zweiundsiebzig Stunden da unten.«
Driscoll musterte den Möwenschwarm, der etwa acht Meter weit entfernt im Sand hockte.
»Ach, und außerdem Lieutenant - bei der hier liegt der
Weitere Kostenlose Bücher