Der Knochendieb
Minuten zu spät zu seinem Treffen. Gemessenen Schrittes ging er auf die schwere Eichentür zu, die zum Gemeindesaal von Saint Rose of Lima führte. Drinnen waren viele Menschen versammelt, Männer und Frauen aus dem Polizeidienst, die alle das gleiche Ziel verband: Sie wollten die Kraft aufbringen, nicht mehr zu trinken.
Thomlinson wurde von Father Liam O’Connor begrüßt, einem Jesuitenpriester. Er war fünfundsechzig Jahre alt, ein Bär von Mann mit einem dichten Schopf weißen Haares, durchzogen von etlichen Strähnen in der ursprünglichen Haarfarbe. Father O’Connor war examinierter Suchttherapeut und leitete seit dreißig Jahren das vertrauliche Alkohol- und Drogenprogramm der New Yorker Polizei. Seine Erfolge erholten sich, bekamen ihr Leben in den Griff und wurden wieder leistungsfähige Polizeibeamte. Seine Misserfolge nicht. Einige von ihnen beendeten ihre Laufbahn, indem sie ihr Leben beendeten. Es war keine Seltenheit, dass sich ein verzweifelter Polizist den Lauf seines Dienstrevolvers in den Mund steckte und abdrückte.
»Hallo, Cedric. Wie geht’s Ihnen heute?«, fragte Father O’Connor.
»Prima, Father. Und Ihnen?«
»Abgesehen von ein bisschen Arthritis recht gut. Danke der Nachfrage.«
Thomlinson lächelte und trottete zu seinem Platz im Stuhlkreis hinüber, ehe er sich umsah. Die Gesichter waren
immer die gleichen. Manche strahlten Hoffnung aus, andere Verzweiflung. Gelegentlich kam jemand Neues dazu. Das NYPD brachte es durchschnittlich auf zwei im Monat.
»Wie geht’s?«, fragte Thomlinson leise den Jungpolizisten zu seiner Rechten.
Es waren viel zu viele junge Beamte im Raum, die im Von-vier-bis-vier-Rhythmus gefangen waren. Dies betraf Polizisten, die mit den üblichen Schichten von vier bis zwölf begannen und dann in den Kneipen herumhingen, bis die Lokale morgens um vier schlossen. Daher der Begriff »von vier bis vier«. Der Rest der Gruppe setzte sich aus den whiskeygegerbten Gesichtern der Veteranen zusammen, die unbedingt bis zum Ruhestand durchhalten wollten. Thomlinson mit seinen zweiundvierzig hatte das Gefühl, irgendwo dazwischen festzuhängen - mit Betonung auf »hängen«.
Das gedämpfte Murmeln der Wartenden brach ab, als Father O’Connor Platz nahm und sein Bittgebet begann. »Allmächtiger Vater …«
Weiter bekam Thomlinson nichts mit, da seine Gedanken zu den Ereignissen abdrifteten, die ihn ursprünglich hierhergeführt hatten.
Er und sein Partner Harold Young ermittelten verdeckt fürs Drogendezernat. Sie hatten Jamal Hinsdale, einen üblen Dealer, mit einem fingierten mittelgroßen Einkauf in die Falle gelockt und dabei mit markierten Geldscheinen in der Tasche einen nur matt erleuchteten Flur betreten. An diesem Nachmittag sollte keine Festnahme erfolgen, sondern nur ein kontrollierter Drogenkauf. Jamal kam aus dem Dunkel auf sie zu.
»Alles cool, Mann?«, fragte Jamal.
»Ja, Mann. Alles cool«, erwiderte Thomlinson, obwohl er nach einer wüst durchsoffenen Nacht schwer verkatert war und alles nur verschwommen sah.
Deshalb bekam er auch nicht mit, wo Jamal auf einmal die Kanone hernahm. Wie in Zeitlupe explodierten die Schüsse; der erste traf Thomlinson ein Stück oberhalb des rechten Schulterblatts und streckte ihn nieder. In kurzen Abständen ertönten weitere Schüsse, gefolgt von gespenstischer Stille. Als sich der Rauch lichtete, waren Harold Young und Jamal Hinsdale tot, und der beißende Geruch von Schießpulver und frischem Blut hing in der Luft. Thomlinson rief sein Backup-Team, das bereits unterwegs war. Er hörte, wie die Sirenen näher kamen und die Mieter im ganzen Haus die Fenster aufrissen, um sich das Spektakel anzusehen. Als das Backup-Team endlich bei ihm eintraf, brach die Hölle los. Polizeifunkgeräte knisterten, unzählige uniformierte Beamte und Zivilfahnder kamen angelaufen, und der diensthabende Sergeant brüllte Befehle. Als sie Thomlinson in den Krankenwagen schoben, hörte er nur allzu deutlich, was der Sergeant sagte: dass Thomlinsons Waffe nach wie vor im Halfter steckte.
Im offiziellen Bericht hieß es, dass Thomlinson direkt hinter Detective Young gestanden habe und daher nicht habe schießen können, ohne seinen Partner zu treffen. Der Bürgermeister und der Polizeipräsident gaben sich mit dem zufrieden, was sie hatten: einen toten Helden, einen lebenden Helden und einen toten Dealer. Youngs Beerdigung machte Schlagzeilen. Wieder ein heldenhafter Polizist, der sein Leben im Kampf gegen das Verbrechen hatte lassen
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