Der Knochendieb
einen Platz auf dem Sofa an.
»Sollen wir damit anfangen, wie wir ihn adoptiert haben?«, fragte sie und setzte sich auf einen Stuhl mit hoher Lehne.
»Das wäre gut.«
»Wir konnten ihn erst offiziell adoptieren, als er aus Wellmore entlassen wurde.«
»Wellmore? Ein Internat?«
»Oh nein. Es ist eine Art Sanatorium für Kinder, eine herrliche Anlage. Mein Mann hat großzügig zum Fortbestehen des Hauses beigetragen.«
»Eine psychiatrische Klinik.«
»Ja, ein Vergnügungspark für Kinder, wenn Sie so wollen.«
»Warum wurde Colm dort aufgenommen?«
»Haben Sie den Polizeibericht nicht gelesen?«
»Ich wusste gar nicht, dass es einen gibt.«
»Er hat mit Streichhölzern gespielt, der arme Junge. Feuer faszinierte ihn. Leider hat er dabei das Haus seiner Familie abgebrannt. Aber damals hieß er noch nicht Colm Pierce. Wahrscheinlich wussten Sie deshalb nichts von dem Polizeibericht.«
»Wie hieß er denn vorher?«
»Colm O’Dwyer.«
Driscoll notierte sich den Namen. Nun war ihm klar, warum er keine Unterlagen über Pierce finden konnte, ehe dieser seinen Führerschein gemacht hatte.
»Gab es dabei Tote?«, fragte Driscoll.
»Seine Eltern und möglicherweise eine Schwester. Es ist nach wie vor unklar, was aus ihr geworden ist. Colm
ist den Flammen entkommen, indem er sich im Keller verkrochen hat.«
»Hat er seine Tat je gestanden?«
»Er war … katatonisch. So nennt man das, glaube ich. Doktor Hudson, der Neurologe in Wellmore, war sich ziemlich sicher, dass die extreme Hitze des Feuers diesen Zustand herbeigeführt hat. Ein Jahr später war Colm wiederhergestellt und hatte sein Gedächtnis weitgehend zurückgewonnen. An das Feuer konnte er sich allerdings nicht erinnern. Er hat sich während seines Aufenthalts in Wellmore großartig gemacht und sämtliche Jugendsünden überwunden. Wir sind sehr stolz auf seine Heilung. Nach einigen Jahren wurde er aufgrund seines vorbildlichen Benehmens und eines echten moralischen Bewusstseins in unsere Obhut entlassen.«
»Warum haben Sie ihn adoptiert?«
»Damals habe ich jeden Dienstag ehrenamtlich in Wellmore gearbeitet und dem Pflegepersonal geholfen. Ich habe mich einfach in den Jungen verliebt.«
»Hat Ihr Mann Ihre Zuneigung zu Colm geteilt?«
»Voll und ganz. Edgar und ich hatten einen Sohn verloren, und so war uns Colm herzlich willkommen. Edgar hat ihn nach Strich und Faden verwöhnt. Es war mein Mann, der Colm mit den feineren Dingen des Lebens vertraut gemacht hat.«
»Ich würde Ihren Mann gern kennen lernen.«
»Edgar kann Sie leider nicht empfangen. Er leidet an Alzheimer.«
»Das tut mir sehr leid.«
»Edgar kann sich nicht mehr zusammenhängend äu ßern, doch er wiederholt des Öfteren ein Wort, nämlich ›Colm‹.«
Der Hausdiener erschien mit dem Kaffeetablett.
»Bleiben Sie zum Mittagessen, Lieutenant?«
»Gern, aber danach möchte ich Wellmore einen Besuch abstatten.«
»Die Besuchszeiten sind leider vorbei.«
»Mitten am Tag?«
Sie ignorierte die Frage. Stattdessen griff sie nach Driscolls Hand und drückte sie fest. »Manchmal kommt mir dieses Haus wie ein Mausoleum vor. Ich brauche Gesellschaft, und ich freue mich über Ihren Besuch, aber mir ist völlig schleierhaft, weshalb Sie überhaupt hier sind.«
Driscoll studierte ihr Gesicht. Es war spitz und kantig und voller Kraft. Darin lag eine Zähigkeit, die er an Frauen nur selten sah. Er fragte sich, was für Geheimnisse sie verbarg. Als Adoptivmutter des Jungen musste sie seine Neigungen ja gut gekannt haben.
»Eine Patientin ist unter der Behandlung Ihres Sohnes gestorben«, sagte er ausdruckslos und beobachtete sie genau.
»Falls es um einen Kunstfehler geht, werden wir gern eine großzügige Entschädigung leisten.«
Eine loyale Mutter? Oder steckte hinter der Geste etwas anderes? »Es geht um Mord.«
»Und Sie glauben, mein Sohn hat etwas damit zu tun?«
»Ich versuche gerade, es auszuschließen.«
»Gott sei Dank! Und sind Sie dem wahren Schuldigen schon auf die Spur gekommen?«
»Wir tappen völlig im Dunkeln«, log er.
»Ihre Offenheit ist beklemmend. Wer ist denn ermordet worden?«
»Ein junges Mädchen.«
Charlotte entnahm einem antiken Kästchen eine Zigarette und zündete sie an. Ihre Miene verriet nicht die geringste Emotion.
»Ihre Eltern sind einflussreich«, ergänzte Driscoll.
»Offensichtlich.«
Charlotte Pierce hängte sich bei Driscoll ein, als sie durch den langen Flur zum Esszimmer gingen. »Seien Sie auf der Hut, die Patienten sind
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