Der Knochenjäger
die glitschigen Steine hinweg zum Abflußrohr. Er drehte sich um, blieb einen Moment stehen und schaute zurück. Bei den anderen war es ihm gleichgültig gewesen, ob die Konstabler sie fanden oder nicht. Bei Hanna, bei der Frau im Taxi. Aber diesmal ... Der Knochensammler hoffte, daß sie den hier nicht rechtzeitig fanden. Genaugenommen sollten sie ihn überhaupt nicht finden. Damit er in ein, zwei Monaten zurückkommen und nachsehen konnte, ob der Fluß tatsächlich nur das blanke Skelett übriggelassen hatte.
Als er wieder auf der kiesbestreuten Zufahrt war, nahm er die Maske ab und hinterließ unweit der Stelle, an der er geparkt hatte, die Hinweise auf den nächsten Tatort. Er war ärgerlich, regelrecht wütend auf die Konstabler, deshalb versteckte er die Hinweise diesmal. Und er fügte eine besondere Überraschung hinzu. Etwas, was er eigens für sie aufgehoben hatte. Der Knochensammler kehrte zum Taxi zurück.
Ein leichter Wind ging, der den säuerlichen Geruch des Flußwassers zu ihm herantrug. Und das Säuseln der Gräser und das allgegenwärtige Rauschen des Verkehrs.
Wie Schmirgelpapier auf Knochen.
Er blieb stehen und horchte auf das Geräusch, legte den Kopf leicht schief und schaute zu den Lichtern der Stadt. Es mußten Milliarden sein, die sich wie ein Sternenmeer gen Norden erstreckten. In diesem Augenblick kam eine Frau den Joggingpfad neben dem Abflußrohr entlanggetrabt und wäre beinahe mit ihm zusammengeprallt.
Die dünne, braunhaarige Frau in lila Shorts und Oberteil wich ihm im letzten Moment aus. Keuchend blieb sie stehen und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Gut in Form - stramme Muskeln -, aber nicht gerade hübsch. Hakennase, breiter Mund, unreine Haut.
Doch darunter ...
»Sie sollten ... Sie dürfen hier nicht parken. Das ist ein Joggingpfad ...«
Die Worte verklangen, und ihr Blick wurde ängstlich, zuckte von seinem Gesicht zum Taxi und dann zu der zusammengeknüllten Skimaske in seiner Hand.
Sie wußte, wer er war. Er lächelte, nahm ihr bemerkenswert ausgeprägtes Schlüsselbein wahr.
Sie schob den rechten Fuß etwas vor und belastete ihn, um im nächsten Moment loszusprinten. Doch er kam ihr zuvor. Er duckte sich, als wollte er sie anspringen, und als sie einen kurzen Schrei ausstieß und die Arme senkte, um ihn abzublocken, richtete sich der Knochensammler blitzschnell auf und rammte ihr den Ellbogen an die Schläfe. Ein lautes Knacken ertönte, wie von einem einschnappenden Sicherheitsgurt.
Sie stürzte auf den Kies und blieb reglos liegen. Erschrocken ging der Knochensammler in die Knie und nahm ihren Kopf in die Hände. »Nein, nein, nein«, stöhnte er. Er war wütend auf sich, weil er so fest zugeschlagen hatte; er befürchtete, daß er den herrlichen Schädel zerstört haben könnte, der sich unter dem strähnigen Haar und dem unansehnlichen Gesicht verbarg.
Amelia Sachs füllte eine weitere Registrierkarte aus und machte dann eine Pause. Sie stand auf, entdeckte einen Münzautomaten und ließ sich einen Pappbecher Kaffee heraus, der abscheulich schmeckte. Dann kehrte sie in das fensterlose Büro zurück und betrachtete die Spuren, die sie gesammelt hatte.
Sie empfand eine merkwürdige Verbundenheit mit dieser makabren Kollektion. Vielleicht wegen alldem, was sie durchgemacht hatte, um sie zusammenzutragen - ihre Gelenke schmerzten, und sie erschauderte noch immer, wenn sie an das verscharrte Opfer von heute morgen dachte, an die blutige Hand und an T. J. Colfax' verbrühtes Fleisch. Bis dahin hatten ihr Spuren nichts bedeutet. Spurenlehre, das waren langweilige Unterrichtsstunden an trägen Frühlingsnachmittagen auf der Akademie. Spurenlehre, das war Mathematik, nichts als Gleichungen und Tabellen, wissenschaftliche Arbeit. Tote Materie.
Nein, Amelia Sachs wollte lieber mit Menschen zu tun haben. Auf Streife gehen, Störenfriede zur Ordnung rufen, Drogensüchtige und Dealer aus dem Verkehr ziehen. Dafür sorgen, daß die Menschen Achtung vor dem Gesetz hatten - wie ihr Vater. Oder sie ihnen einbleuen. Wie der hübsche Nick Carelli, mit fünf Dienstjahren schon ein alter Hase, der Star der Abteilung Straßenkriminalität, der der Welt mit einem lässigen Lächeln begegnete.
Genau so wollte sie werden.
Sie blickte auf das spröde braune Blatt, das sie im Tunnel bei den alten Viehhöfen gefunden hatte. Einer der Hinweise, die der Unbekannte für sie hinterlassen hatte. Und hier war auch die Unterwäsche. Ihr fiel wieder ein, daß die FBI-Leute die
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