Der Knochenjäger
»Berger.«
»Nein, das wirst du nicht«, sagte Thom. »Es ist spätnachts.«
»Die Uhr kann ich mittlerweile selber lesen«, erwiderte Rhyme ungerührt. »Ruf ihn an. Er wohnt im Plaza.«
»Nein.«
»Ich habe dich gebeten, ihn anzurufen.«
»Hier.« Der Adlatus knallte ein Blatt Papier auf die hintere Tischseite, doch Rhyme konnte es mühelos lesen. Lincoln Rhyme mochte viele Fähigkeiten verloren haben, doch sehen konnte er noch ebensogut wie ein junger Mann. Er betätigte mit der Wange den Joystick und wählte die Nummer. Es war einfacher, als er dachte, doch er ließ sich absichtlich Zeit und grummelte fortwährend vor sich hin. Thom ging nach unten, ohne sich einen Deut darum zu kümmern.
Berger war nicht auf seinem Hotelzimmer. Rhyme unterbrach die Verbindung, stinksauer, daß er den Hörer nicht auf die Gabel knallen konnte.
»Ärger?«
»Nein«, knurrte Rhyme.
Wo steckte er? dachte Rhyme gereizt. Es war spätnachts. Berger müßte inzwischen auf seinem Zimmer sein. Rhyme ertappte sich bei einem merkwürdigen Gefühl - Eifersucht, weil sein Sterbearzt noch unterwegs war und möglicherweise einem anderen zum Tod verhalf.
Sellitto kicherte plötzlich leise vor sich hin. Rhyme blickte auf. Der Polizist aß einen Schokoriegel. Er hatte vergessen, daß der stattliche Mann sich schon damals, als sie noch zusammengearbeitet hatten, hauptsächlich von solchem Zeug ernährt hatte. »Mir ist gerade was eingefallen. Kannst du dich noch an Bennie Ponzo erinnern?«
»Die OK-Zielfahndungsgruppe vor zehn, zwölf Jahren?«
»Genau.«
Rhyme hatte der Einsatz gegen das organisierte Verbrechen Spaß gemacht. Die Täter waren Profis. Die Tatorte eine echte Herausforderung. Und die Opfer waren selten unschuldig.
»Wer war das?« fragte Mel Cooper.
»Ein Killer aus Bay Ridge«, sagte Sellitto. »Weißt du noch, wie er Schokobrot haben wollte, nachdem wir ihn eingebuchtet hatten?«
Rhyme nickte lachend.
»Was hat's damit auf sich?« fragte Cooper.
»Also«, sagte Sellitto, »wir sind drunten in der Zentrale im Arrestraum, Lincoln, ich und noch zwei andere Jungs. Und Bennie - weißt du noch, ein Riesenkerl - war richtig zusammengesackt und hat sich den Bauch gehalten. Und mit einemmal jammert er los: >Ojeoje, hab' ich Hunger, ich möchte 'n Schokobrot .< Und wir schauen einander an, und ich sag': >Was ist denn ein Schokobrot?< Und er schaut mich an, als kam' ich vom Mond, und sagt: >Na, was wohl ? Man nimmt 'n Schokoriegel, klemmt ihn zwischen zwei Scheiben Brot und beißt rein. Das ist 'n Schokobrot.<«
Sie lachten. Sellitto hielt den Riegel zuerst Cooper hin, der den Kopf schüttelte, und dann Rhyme, der plötzlich eine unbändige Lust hatte, ein Stück abzubeißen. Er hatte seit über einem Jahr keine Schokolade mehr gegessen. Er mied derartige Kost - Zucker, Süßigkeiten. Ungesunde Nahrung. Diese Kleinigkeiten waren es, die am schwersten zu ertragen waren, die einen am meisten bedrückten und einem letztendlich die Lust am Leben nahmen. Gut, er würde nie tauchen gehen oder in den Alpen herumklettern. Na und? Das tun viele nicht. Aber jeder Mensch kann sich die Zähne putzen, zum Zahnarzt gehen, sich eine Plombe einsetzen lassen, mit der U-Bahn nach Hause fahren. Jeder kann sich einen Erdnußkrümel aus dem Backenzahn pulen, wenn niemand zuguckt.
Alle außer Lincoln Rhyme.
Er schüttelte den Kopf und trank einen großen Schluck Scotch. Sein Blick wanderte wieder zum Computerbildschirm, und ihm fiel der Abschiedsbrief an Blaine ein, den er heute morgen verfaßt hatte, ehe er von Sellitto und Banks unterbrochen worden war. Er wollte auch noch ein paar andere Briefe schreiben.
Einen hatte er bisher auf die lange Bank geschoben - den an Peter Taylor, seinen Rückenmarkspezialisten. Wenn Taylor und Rhyme sich unterhielten, ging es zumeist nicht um den Zustand des Patienten, sondern ums Sterben. Taylor war gegen jegliche Sterbehilfe. Rhyme hatte das Gefühl, daß er ihm eine Erklärung schuldig war, weshalb er sich für den Selbstmord entschieden hatte.
Und Amelia Sachs?
Auch die Tochter des Streifenpolizisten sollte einen Brief erhalten. Krüppel sind großzügig, Krüppel sind nett, Krüppel sind eisern ... Vor allem aber können Krüppel vergeben.
Liebe Amelia, Meine liebe Amelia, Amelia,
Lieber Officer Sachs,
nachdem wir das Vergnügen hatten, miteinander zu arbeiten, möchte ich Ihnen bei dieser Gelegenheit mitteilen, daß ich Ihnen, obzwar ich Sie für eine Verräterin halte, Ihre Judastat vergebe.
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