Der Knochenjäger
behördliche Anordnung. Eingewiesen ins Bellevue und in die psychiatrische Klinik von Manhattan. Letztmals vor drei Jahren entlassen. Zuletzt wohnhaft in Washington Heights.«
Er blickte auf. »Wer ist für die Telefongesellschaften zuständig?«
Mehrere Agenten hoben die Hände.
»Ruft sie an«, befahl Dellray.
Fünf endlose Minuten vergingen.
»Nichts. Keine Nummer im New Yorker Telefonverzeichnis.«
»Jersey hat nichts«, meldete sich ein anderer Agent.
»Connecticut negativ.«
»Scheiß die Wand an«, knurrte Dellray. »Spielt mit dem Namen. Probiert alle möglichen Variationen durch. Und erkundigt euch nach Anschlüssen, die im letzten Jahr wegen nicht bezahlter Rechnungen abgeschaltet wurden.«
Mehrere Minuten lang herrschte Stimmengewirr.
Dellray ging wie ein Besessener auf und ab, und Sachs wurde allmählich klar, weshalb er so dürr war.
Plötzlich rief ein Agent. »Hab' ihn!«
Alle drehten sich zu ihm um.
»Bin mit der Kfz-Zulassung New York verbunden«, rief ein anderer Agent. »Die haben ihn. Kommt gerade durch ... Er ist Taxifahrer. Hat einen P-Schein.«
»Wieso überrascht mich das nicht?« murmelte Dellray. »Hätt' ich mir denken können. Wo wohnt er?«
»Morningside Heights. Eine Straße vom Fluß entfernt.« Der Agent schrieb die Adresse auf und hielt den Zettel hoch. Dellray riß ihn im Vorbeigehen an sich. »Kenn' die Gegend. Ziemlich abgelegen. Lauter Drogis.«
Ein anderer Agent gab die Anschrift in seinen Computer ein. »Okay, checke gerade im Grundbuch ... Handelt sich um ein altes Haus. Eigentümer ist eine Bank. Er muß es gemietet haben.«
»Wollen Sie ein Geiselbefreiungskommando?« rief ein Agent quer durch den Raum. »Ich habe Quantico am Apparat.«
»Keine Zeit«, versetzte Dellray »Setzt das hiesige Einsatzkommando ein. Die sollen sich fertig machen.«
»Und was ist mit dem nächsten Opfer?« fragte Sachs.
»Welches nächste Opfer?«
»Er hat sich schon wieder jemand geschnappt. Er weiß, daß wir die Hinweise seit ein, zwei Stunden haben. Vermutlich hat er das Opfer schon seit einiger Zeit in seiner Gewalt. Muß so sein.«
»Liegt aber keine Vermißtenmeldung vor«, sagte der Agent. »Und wenn er sich jemand gegriffen hat, hat er ihn vermutlich in seinem Haus.«
»Nein, da bestimmt nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil das zu viele Spuren hinterläßt«, sagte sie. »Lincoln Rhyme meint, daß er einen sicheren Unterschlupf hat.«
»Tja, er wird uns schon sagen, wo er es hat.«
»Wir können recht überzeugend sein«, sagte ein anderer Agent.
»Legen wir los«, rief Dellray. »Ja, und nun bedanken wir uns alle bei Officer Amelia Sachs. Sie hat den Fingerabdruck gefunden und sichergestellt.«
Sie errötete. Spürte es und haßte sich dafür. Aber sie konnte es nicht verhindern. Als sie den Blick senkte, bemerkte sie die seltsamen Streifen auf ihren Schuhen. Sie kniff die Augen zusammen und stellte fest, daß sie noch immer die Gummiringe übergezogen hatte.
Sie blickte wieder auf, sah rundum die ernsten Mienen der FBI-Agenten, die ihre Waffen überprüften, zur Tür eilten und sie im Vorübergehen kurz anschauten. Genau so, wie Holzfäller einen Baumstamm betrachteten, dachte sie.
NEUNZEHN
Kurz nach der Jahrhundertwende trug sich in unsrer schönen Stadt ein tragischer Unglücksfall mit unseligen Folgen zu. Am 25. März 1911 brach in einer Näherei im Greenwich Village, im Süden von Manhattan gelegen, ein Brand aus. Zum Zeitpunkt des Unglücks hielten sich zahlreiche junge Frauen in den Gewerberäumen des Unternehmens auf, einer der berüchtigten, aber überaus zahlreichen Ausbeuterbetriebe, wo sie in harter Akkordarbeit für Lohn und Brot schuften mußten.
Die Inhaber dieser Fabrik waren derart auf ihren Profit bedacht, daß sie die armen Mädchen, die bei ihnen beschäftigt waren, unter Bedingungen arbeiten ließen, die man nicht einmal einem Sklaven hätte zumuten mögen. Da sie argwöhnten, ihre Arbeitskräfte könnten ansonsten allzu häufig die Toilettenräume aufsuchen, ließen sie kurzerhand die Türen zu den Näh- und Zuschneideräumen verriegeln.
Der Knochensammler fuhr zu seinem Haus zurück. Er kam an einem Streifenwagen vorbei, schaute aber unverwandt nach vorne, so daß ihn die Konstabler gar nicht wahrnahmen.
Das Feuer brach im siebenten Stock des Gebäudes aus und griff binnen weniger Minuten auf die Näherei über. Verzweifelt versuchten die jungen Arbeiterinnen zu fliehen, doch da die Türen mit Ketten verschlossen waren, gab es
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