Der Knochenjäger
Rhyme fort. »Alle ändern behandeln mich ständig wie ein rohes Ei. Ich hasse das.«
»Ich hab' den Eindruck, daß in letzter Zeit sowieso nicht viele Leute da waren, die Ihnen irgendwas hätten sagen können.«
Er schwieg einen Moment. »Das stimmt«, sagte er dann.
Das fortlaufende Kurvenmuster am Bildschirm des Gaschromatographen bewegte sich nicht mehr - die Zacken und Spitzen bildeten nun eins von zahllosen unveränderlichen Kennzeichen, die in der Natur vorkamen. Mel Cooper gab ein paar Befehle ein und las die Ergebnisse am Computer ab. »Wasser, Dieselöl, Phosphate, Natrium, Mineralienspuren ... Keine Ahnung, was das sein soll.«
Worauf, so fragte sich Rhyme, bezieht sich der Hinweis? Auf die Unterwäsche? Die Flüssigkeit? »Machen wir weiter«, sagte er. »Ich möchte die Schmutzprobe sehen.«
Sachs brachte ihm die Tüte. Sie enthielt eine Art rosaroten Sand, durchsetzt mit Lehmklümpchen und kleinen Steinen.
»Lebergestein«, erklärte er. »Eine Mischung aus Fels und Sand. Befindet sich in Manhattan unmittelbar über dem Muttergestein. Sind Natriumsilikate darin enthalten?«
Cooper machte sich am Computer zu schaffen. »Ja. Jede Menge.«
»Dann befindet sich der gesuchte Ort in Downtown-Manhattan, und er ist nicht weiter als fünfzig Meter vom Wasser entfernt-« Rhyme lachte, als er Sachs' verdutzte Miene sah. »Das ist keine Hexerei, Sachs. Ich habe nur meine Hausaufgaben gemacht, das ist alles. Die Baufirmen mischen für gewöhnlich Sodiumsilikat mit Leberstein, um das Erdreich zu festigen, wenn sie drunten am Wasser die Fundamente tief ins Muttergestein graben müssen. Das heißt, daß es irgendwo in Downtown sein muß. Nun werfen wir mal einen Blick auf das Blatt.«
Sie hielt ihm die Tüte hin.
»Keine Ahnung, was das ist«, sagte Rhyme. »Ich glaube nicht, daß ich so was schon mal gesehen habe. Nicht in Manhattan jedenfalls.«
»Ich habe hier eine Auflistung der per Internet erreichbaren Gartenbaubetriebe«, sagte Cooper, ohne den Blick vom Monitor zu wenden. »Ich geh' mal kurz surfen.«
Rhyme hatte auch schon so manche Stunde vor dem Computer zugebracht und das Internet erkundet. Doch wie zuvor bei den Büchern, Filmen und Kunstdrucken hatte er schließlich auch das Interesse an der Cyberwelt verloren. Lincoln Rhyme kam sich, vermutlich weil er selbst in einer weitgehend virtuellen Welt lebte, im Internet verloren vor.
Coopers Monitor flackerte und blinkte, während er immer tiefer ins Netz vordrang. »Ich lade mir ein paar Dateien runter. Dürfte zehn, zwanzig Minuten dauern.«
»In Ordnung«, sagte Rhyme. »Zu den weiteren Hinweisen, die Sachs gefunden hat... Nicht die fingierten. Die anderen. Sie könnten uns etwas darüber verraten, wo er sich aufgehalten hat. Nehmen wir uns mal unsere Geheimwaffe vor, Mel.«
»Geheimwaffe?« fragte Sachs.
»Die Tatortspuren.«
Special Agent Fred Dellray hatte eine zehnköpfige Einsatzgruppe aufgestellt, die in das Haus eindringen sollte. Zwei Teams, dazu Sicherung und Observierung. Die mit kugelsicheren Westen bewehrten Agenten standen im Gebüsch und hielten sich schwitzend bereit. Im Obergeschoß eines leerstehenden Sandsteinhauses auf der anderen Straßenseite hatte der Sicherungs- und Observierungstrupp seine Abhörmikrofone und Infrarot-Videokameras auf das Haus des Täters ausgerichtet.
Die drei Scharfschützen, die auf den umliegenden Dächern lagen, hatten ihre Remington-Gewehre durchgeladen und die schweren Nachtsichtgeräte neben sich aufgebaut.
Dellray, der statt des froschgrünen Anzugs eine FBI-Windjacke und Jeans trug, horchte auf die Durchsage im Funkempfänger, den er am Ohr klemmen hatte.
»Observierung an Einsatzleitung. Haben Infrarot auf den Keller gerichtet. Da unten bewegt sich jemand.«
»Wie sieht's da drin aus?« fragte Dellray.
»Wissen wir nicht. Die Fenster sind zu verdreckt.«
»Ist er ganz allein da drin? Hat er vielleicht ein Opfer bei sich?« Irgendwie wußte er, daß Officer Sachs wohl recht hatte - daß er schon wieder jemand entführt hatte.
»Keine Ahnung. Unsere Geräte zeigen lediglich Bewegung und Wärme an.«
Dellray hatte weitere Agenten neben und hinter dem Haus postiert. Sie meldeten sich. »Keinerlei Lebenszeichen im Erdgeschoß und im ersten Stock. Garage ist abgeschlossen.«
»Scharfschützen?« fragte Dellray »Melden.«
»Schütze eins an Einsatzleiter. Habe Haustür im Visier. Over.«
Die anderen sicherten den Hausflur und ein Zimmer im Erdgeschoß. »Geladen und angelegt«,
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