Der Knochenjäger
gefragt, was zwei plus zwei sei. »Und die Nummernschilder sind vermutlich auch gestohlen. Steht uns Emma noch zur Verfügung?«
»Die ist wahrscheinlich schon im Bett.«
»Weck sie auf und sag ihr, sie solle sich bei Hertz, Avis, National und Budget nach gestohlenen Wagen erkundigen.«
»Wird gemacht«, sagte Sellitto, wenn auch etwas unbehaglich, als röche er den leicht brenzligen Geruch, der in der Luft hing, seit sie das Beweismittel des FBI verbrannt hatten.
»Die Fußspuren?« fragte Sachs.
Rhyme betrachtete die Abdrücke, die sie nach der elektrostatischen Methode gesichert hatte.
»Ungewöhnliche Sohlenabnutzung. Hier, seht ihr diese abgetretenen Stellen an der Außenkante beider Schuhe, in Höhe des Fußballens?«
»Zehenverkrümmung?« fragte Thom sich laut.
»Möglich, aber die Absätze sind nicht dementsprechend abgetreten.« Rhyme musterte die Abdrücke. »Meiner Meinung nach ist er eine Leseratte.«
»Eine Leseratte?«
»Setzen Sie sich in den Sessel da drüben«, sagte Rhyme zu Sachs. »Beugen Sie sich über den Tisch und tun Sie so, als ob Sie ein Buch lesen.«
Sie setzte sich hin, blickte dann auf. »Und?«
»Tun Sie so, als würden Sie umblättern.«
Sie tat so, mehrmals. Blickte wieder auf.
»Weiter so. Sie lesen gerade Krieg und Frieden.«
Sie hatte den Kopf gesenkt, blätterte eine Seite nach der anderen um. Nach kurzer Zeit legte sie unwillkürlich die Knöchel über Kreuz. So daß nur mehr die Außenkanten ihrer Schuhe den Boden berührten.
Rhyme wies darauf hin. »Halt das in unserem Täterprofil fest, Thom. Aber mit einem Fragezeichen. Nun werfen wir mal einen Blick auf die Papillarleisten.«
Sachs erklärte, daß sie den deutlichen Fingerabdruck, anhand dessen der Unbekannte identifiziert worden sei, nicht dabeihabe. »Der ist noch beim FBI.«
Doch dieser Abdruck interessierte Rhyme gar nicht. Er wollte den Abdruck sehen, den Sachs mit der Kromekot-Folie am Hals der jungen Deutschen gesichert hatte.
»Scanner nimmt ihn nicht an«, meldete Cooper. »Der ist nicht mal C-klassig. Der gibt meiner Meinung nach überhaupt nichts her.«
»Mir geht es nicht um eine Identifizierung«, sagte Rhyme. »Aber dieser Streifen da interessiert mich.« Es war eine halbmondförmige Linie, die sich genau im Kernbereich des Abdrucks befand.
»Was ist das?« fragte Sachs.
»Eine Narbe, glaube ich«, sagte Cooper. »Von einer alten Schnittverletzung. Sieht ziemlich schlimm aus. Muß bis auf den Knochen gegangen sein.«
Rhyme dachte an die zahllosen Narben, Abschürfungen und anderen Hautverletzungen, die er im Lauf der Jahre zu Gesicht bekommen hatte. Früher, als noch nicht alle Menschen am Computer saßen und Arbeitsabläufe nur mehr verwalteten, hatte man durch eine Untersuchung der Hände feststellen können, welchen Beruf jemand ausübte. Sekretärinnen erkannte man an den verkrümmten Fingerspitzen vom vielen Tippen, Näherinnen an den Einstichen, desgleichen Schuster, deren Nadeln etwas größere Löcher hinterließen; dazu die Stifteindrücke und Tintenflecke bei Stenographen und Buchhaltern, die typischen Schnittverletzungen, die sich beispielsweise Drucker am Papier zufügten, die unverwechselbaren Schwielen, die bei jeder körperlichen Arbeit entstanden ...
Aber mit dieser Narbe konnten sie überhaupt nichts anfangen.
Noch nicht jedenfalls. Nicht, solange sie keinen Verdächtigen hatten, dessen Hände sie untersuchen konnten.
»Was noch? Der Knieabdruck. Der ist gut. Läßt zumindest erahnen, was er trägt. Halten Sie ihn hoch, Sachs. Höher! Weite Hose. Den Knitterfalten nach zu schließen, handelt es sich um eine Naturfaser. Bei diesem Wetter würde ich auf Baumwolle tippen. Keine Wolle. Und Seidenhosen sieht man heutzutage nicht mehr allzuoft.«
»Ein leichtes Gewebe«, sagte Cooper. »Kein Denim.«
»Eine Sporthose«, schloß Rhyme. »Trag das in unser Profil ein, Thom.«
Cooper wandte sich wieder dem Computer zu und gab ein paar Befehle ein. »Mit dem Blatt haben wir kein Glück. Nicht mal im Smithonian liegt was Entsprechendes vor.«
Rhyme ließ den Kopf auf das Kissen sinken. Wieviel Zeit mochten sie noch haben? Eine Stunde? Zwei?
Der Mond. Schmutz. Brackiges Wasser ...
Rhyme warf einen Blick auf Sachs, die allein in der Ecke stand. Sie hatte den Kopf gesenkt, so daß ihre roten Haare lang herunterhingen. Sie schaute in eine Beweismitteltüte, hatte die Stirn gerunzelt, so als denke sie scharf nach. Wie oft hatte er früher in genau dieser Haltung dagestanden,
Weitere Kostenlose Bücher