Der Knochenjäger
Kriegskasse an sich genommen, eine Knarre gezogen, auf Dellrays Unterleib gezielt und seelenruhig abgedrückt. Klick, klick, klick. Fehlzündung. Toby Dolittle und der Sicherungstrupp hatten das Arschloch und seine Aufpasser überwältigt, ehe der Drecksack an seine andere Wumme rankam. Doch Dellray, der ziemlich mitgenommen gewesen war, hatte daran denken müssen, welch eine Ironie des Schicksals es doch war, daß er um ein Haar umgebracht worden war, weil der Täter ihm seine Rolle hundertprozentig abgenommen hatte - felsenfest davon überzeugt gewesen war, daß er es mit einem Dealer zu tun hatte, nicht mit einem FBI-Agenten.
»Vier Minuten bis zum Einsatzort«, rief der Fahrer.
Aus irgendeinem Grund mußte Dellray an Lincoln Rhyme denken. Im nachhinein tat es ihm leid, daß er sich so beschissen aufgeführt hatte, als er den Fall übernommen hatte. Aber ihm war nichts anderes übriggeblieben. Sellitto war ein Sturkopf, und Polling war ein Psycho - doch die beiden wußte Dellray zu nehmen. Bei Rhyme dagegen fühlte er sich nie ganz wohl in seiner Haut. Messerscharfer Verstand (verdammt, seine Leute waren es gewesen, die Pietrs' Fingerabdruck gesichert hatten, auch wenn sie nicht so schnell darauf angesprungen waren, wie es sich gehört hätte). Seinerzeit, vor dem Unfall, hatte Rhyme keiner auch nur annähernd das Wasser reichen können. Und austricksen ließ er sich auch nicht.
Jetzt war Rhyme ein gebrochener Mann. Schon traurig, was aus einem werden konnte, daß man praktisch tot sein und trotzdem weiterleben konnte. Dellray war in sein Zimmer marschiert - in sein Schlafzimmer wohlgemerkt - und hatte ihm einen schweren Schlag versetzt. Schwerer als nötig.
Vielleicht sollte er ihn anrufen. Er könnte - »Es geht los«, rief der Fahrer, und Dellray verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an Lincoln Rhyme.
Die Mannschaftswagen bogen in die Straße ein, in der Pietrs wohnte. In den meisten anderen Straßen, durch die sie gefahren waren, hatten die Anwohner draußen gestanden, Bierflaschen und Zigaretten in der Hand, und sich durch die frische Nachtluft etwas Linderung erhofft. Doch hier war alles dunkel und menschenleer.
Die Wagen wurden langsamer und hielten an. Zwei Dutzend Agenten in schwarzer Einsatzkleidung stiegen aus. Sie waren mit Heckler-&-Koch-Maschinenpistolen bewaffnet, alle mit Mündungslampe und Laservisier ausgestattet. Zwei Obdachlose glotzten sie an; einer versteckte rasch seine Flasche Kornschnaps unter dem Hemd.
Dellray warf einen kurzen Blick auf Pietrs' Haus. Aus einem Fenster fiel fahlgelbes Licht.
Der Fahrer setzte ein Stück zurück, bis der Wagen im Dunkeln stand, und flüsterte Dellray zu: »Perkins ist dran.« Er tippte an seinen Kopfhörer. »Er hat den Direktor an der Strippe. Die wollen wissen, wer den Zugriff leitet.«
»Ich mach' das«, versetzte das Chamäleon. Er wandte sich an seine Leute. »Die Sicherungstrupps auf die andere Straßenseite und in die Seitengassen. Die Scharfschützen gehen hier, dort und da drüben in Stellung. Und ich möchte, daß alle seit spätestens fünf Minuten in Position sind. Haben wir uns verstanden?«
Die alte knarrende Holztreppe hinab. Er hatte den Arm um die Frau geschlungen, die noch immer halb bewußtlos war von dem Schlag an die Schläfe, und führte sie in den Keller. Am Fuß der Treppe stieß er sie zu Boden und blickte auf sie hinab.
Esther...
Sie schlug die Augen auf und schaute ihn an. Hoffnungslos, bettelnd. Doch er nahm ihr stummes Flehen nicht wahr. Er sah nur ihren Körper. Er zog sie aus, streifte ihr die lila Joggingkleidung ab. Kaum zu glauben, daß eine Frau sich seinerzeit in so einem Aufzug auf die Straße getraut hatte - das war ja allenfalls, nun ja, Unterwäsche. Er hatte nicht gedacht, daß Esther Weinraub ein Flittchen war. Sie war ein berufstätiges Mädchen, eine Arbeiterin, die Hemden nähte, fünf Stück für einen Penny Der Knochensammler stellte voller Wohlgefallen fest, wie deutlich sich das Schlüsselbein unter ihrer Kehle abzeichnete. Andere Männer hätten auf ihre Brüste gegafft, auf die dunklen Warzenhöfe, doch er hatte nur Augen für ihr Brustbein, für die Rippenbögen, die wie Spinnenbeine davon ausgingen.
»Was wollen Sie?« fragte sie benommen.
Der Knochensammler betrachtete sie eingehend, doch er sah keine junge, magere Frau mit einer zu großen Nase, zu vollen Lippen und einer Haut, die wie schmutziger Sand wirkte. Er blickte tiefer, nahm ihre äußerlichen Mängel gar nicht wahr,
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