Der Knochenjäger
verwechselt hast, als ihr miteinander geschlafen habt.«
»Ich lese jetzt nur noch Literatur«, sagte Rhyme großspurig. Was nicht stimmte.
»Literatur, das sind Nachrichten, die aktuell bleiben«, ergänzte Thom.
Rhyme beachtete ihn nicht.
»Ein Mann und eine Frau, die von einer Geschäftsreise an die Küste heimkamen«, sagte Sellitto. »Sind am JFK in ein Taxi gestiegen. Nie zu Hause angekommen.«
»Gegen halb zwölf ging eine Meldung ein. Das Taxi wurde in Queens auf der Stadtautobahn gesehen. Männlicher und weiblicher Fahrgast, beide weiß, auf dem Rücksitz. Sah so aus, als wollten sie das Fenster einschlagen. Haben an die Scheibe gehämmert. Keinerlei Hinweis auf Nummernschild oder Taxiplakette.«
»Dieser Zeuge - der das Taxi gesehen hat. Konnte der den Fahrer erkennen?«
»Nein.«
»Was ist mit dem weiblichen Fahrgast?«
»Keine Spur von ihr.«
Elf Uhr einundvierzig. Rhyme war stinksauer auf Dr. William Berger. »Scheußliche Geschichte«, murmelte er geistesabwesend.
Sellitto atmete lang und lautstark aus.
»Nur zu, nur zu«, sagte Rhyme.
»Er hatte ihren Ring an«, sagte Banks.
»Wer hatte was an?»
» Das Opfer. Man hat ihn heute morgen gefunden. Er trug den Ring der Frau. Des anderen Fahrgasts.«
»Seid ihr sicher, daß es ihrer ist?«
»Ihre Initialen waren innen eingraviert.«
«Dann habt ihr es also mit einem UT zu tun«, fuhr Rhyme fort, »der euch mitteilen will, daß er die Frau hat und daß sie noch lebt.« »Was ist ein UT?« fragte Thom.
Als Rhyme ihn nicht beachtete, sagte Sellitto: »Ein unbekannter Täter.«
»Aber wissen Sie auch, wie er's geschafft hat, daß er paßt?« fragte Banks, der für Rhymes Geschmack die Augen etwas zu weit aufriß. »Ihr Ring?«
»Keine Ahnung.«
»Er hat dem Typen das Fleisch vom Finger geschnitten. Ganz und gar. Bis auf den Knochen.«
Rhyme lächelte leicht, »Ah, er ist schlau, nicht wahr?«
»Wieso ist das schlau?«
»Weil er dafür gesorgt hat, daß niemand vorbeikommt und den Ring nimmt. Er war voller Blut, stimmt's?«
»Total besudelt.«
»Dann ist der Ring also zunächst mal schwer zu sehen. Zudem läuft man Gefahr, sich Aids oder Hepatitis zu holen. Selbst wenn ihn jemand bemerkt haben sollte, hätten die meisten Menschen die Finger davon gelassen. Wie heißt sie, Lon?«
Der ältere Detective nickte seinem Partner zu, worauf dieser sein Notizbuch aufschlug.
»Tammie Jean Colfax. Hört auf die Kurzform T. J. Achtundzwanzig. Arbeitet bei Morgan Stanley.«
Rhyme stellte fest, daß Banks ebenfalls einen Ring trug. Eine Art Schulring. Der Junge war zu smart, der hatte nicht nur Highschool und Polizeiakademie hinter sich. Nichts deutete auf Militärdienst hin. Würde mich nicht wundern, wenn das Schmuckstück den Namen Yale trägt. Ein Detective der Mordkommission? Was sollte aus dieser Welt noch werden?
Der junge Cop hielt die Kaffeetasse mit beiden Händen, die ab und zu zitterten. Rhyme tippte mit dem Ringfinger kurz die elektronische Steuerkonsole von Everett & Jennings an, an der seine linke Hand festgeschnallt war, klickte etliche Befehle an und stellte die Klimaanlage niedriger. Für gewöhnlich benutzte er das Steuerpult nicht für Belanglosigkeiten wie Heizung und Klimaanlage; er sparte sie für die wirklich notwendigen Dinge auf, das Licht zum Beispiel, den Computer und sein Umblättergerät. Aber wenn es zu kalt im Zimmer wurde, lief seine Nase. Und das war eine elende Quälerei für einen Gelähmten.
»Lösegeldforderung?« fragte Rhyme.
»Nichts.«
»Du bearbeitest den Fall?« fragte Rhyme Sellitto.
»Unter der Leitung von Jim Polling. Ja, Und wir möchten, daß du dir den Tatortbefundbericht mal zu Gemüte führst.«
Wieder das Lachen. »Ich? Ich habe mir seit drei Jahren keinen Tatortbefundbericht mehr angesehen. Was könnte ich euch schon sagen?«
»Du könntest uns tausenderlei sagen, Linc.«
»Wer ist derzeit Chef der IRD?«
»Vince Peretti.«
»Das Abgeordnetensöhnchen.« Rhyme erinnerte sich. »Soll der ihn sich doch zu Gemüte führen.«
Ein kurzes Zögern. »Uns wär's lieber, wenn du es machst.«
»Wer ist wir?«
»Der Chef. Meine Wenigkeit.«
»Und wie«, fragte Rhyme lächelnd wie ein Schulmädchen, »steht Captain Peretti zu diesem Mißtrauensvotum?«
Sellitto stand auf und ging durch das Zimmer, blickte auf die Zeitschriftenstapel. Die Forensic Science Review. Der Katalog von Harding & Boyle, einer Firma für Laborausrüstung. The New Scotland Yard Forensic Investigation Annual. Das
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