Der Knochenjäger
Rhyme.
»Das ist keine schlechte Vorrichtung«, warf Banks ein, während er auf das Gerat schaute. Rhyme antwortete nicht. Er warf einen Blick auf die erste Seite, dann las er sie genau durch. Bewegte den Ringfinger genau einen Millimeter weit nach links. Ein Gummistab blätterte die Seite um.
Er las. Dachte dabei: Na, das ist aber komisch.
»Wer war am Tatort zuständig?«
»Peretti persönlich. Als er horte, daß es sich bei dem Opfer um einen der beiden Fahrgäste aus dem Taxi handelt, ist er hin und hat die Sache übernommen.«
Rhyme las weiter. Etwa eine Minute lang faszinierte ihn die nüchterne Sprache des Polizeiberichts. Dann schellte die Türglocke, und sein Herz schlug jählings einen Takt schneller. Er warf Thom einen Blick zu. Einen kalten Blick, mit dem er ihm klarmachte, daß er keine Zeit mehr für albernes Geplänkel hatte. Thom nickte und ging augenblicklich nach unten.
Lincoln Rhyme tilgte jeglichen Gedanken an Taxifahrer, Spuren und entführte Banker aus seinem Kopf.
»Es ist Dr. Berger«, meldete Thom über die Gegensprechanlage.
Endlich. Zu guter Letzt.
»Nun, tut mir leid, Lon. Ich muß dich jetzt bitten zu gehen. War schön, dich mal wieder zu sehen.« Ein Lächeln. »Interessanter Fall, diese Sache da.«
Sellitto zögerte einen Moment, dann erhob er sich. »Aber du liest dir doch den Bericht durch, Lincoln? Sagst uns, was du davon hältst?«
»Na klar«, sagte Rhyme und ließ den Kopf in das Kissen sinken. Querschnittsgelähmte wie Lincoln Rhyme, deren Kopf und Hals voll beweglich waren, konnten allein mit dem Kopf ein gutes Dutzend Steuerelemente bedienen. Doch Rhyme mochte sich keine Apparaturen umschnallen lassen. Ihm waren so wenige Sinnesfreuden verblieben, daß er nicht auf das Wohlgefühl verzichten wollte, das er jedesmal genoß, wenn er den Kopf in sein Kissen kuscheln konnte, das immerhin stattliche zweihundert Dollar gekostet hatte. Der Besuch hatte ihn ermüdet. Noch nicht mal Mittag, und er wollte nichts weiter als schlafen. Seine Nackenmuskeln schmerzten.
Sellitto und Banks waren bereits an der Tür, als Rhyme sagte: »Einen Moment, Lon.«
Der Detective drehte sich um.
»Eins solltest du noch wissen. Bislang habt ihr nur den Fundort entdeckt. Aber es kommt auf den eigentlichen Tatort an - seinen Unterschlupf, den Ort, an dem er sich aufhält. Und den zu finden dürfte verdammt schwer werden.«
»Wie kommst du darauf, daß es noch einen anderen Tatort gibt?«
»Weil er das Opfer nicht im Grab angeschossen hat. Das hat er in seinem Unterschlupf getan - am eigentlichen Tatort. Und dort hält er wahrscheinlich auch die Frau fest. Vermutlich in einem unterirdischen Gelaß oder in einer abgelegenen Gegend. Vielleicht auch beides ... Weil er nämlich, mein lieber Banks« - Rhyme nahm dem jungen Detective das Wort aus dem Mund -, »nicht riskieren würde, auf jemand zu schießen, geschweige denn, eine Gefangene festzuhalten, wenn es sich nicht um einen verschwiegenen und abgelegenen Ort handelte.«
«Vielleicht hat er einen Schalldämpfer benutzt.«
»Auf dem Geschoß wurden keinerlei Spuren von Dämpfmaterialien festgestellt, weder Gummi noch Baumwolle«, versetzte Rhyme,
»Aber wie kann es denn angehen, daß der Mann dort angeschossen wurde?« konterte Banks. «Ich meine, es gab keinerlei Blutspritzer am Fundort.«
»Ich vermute, daß er dem Opfer ins Gesicht geschossen hat«, erklärte Rhyme.
»Ach«, antwortete Banks, der ihn jetzt dämlich lächelnd angaffte. »Woher wissen Sie das?«
»Ein sehr schmerzhafter Schuß; man ist zu keiner Gegenwehr mehr fähig, und bei einem .32er fließt nur wenig Blut. Selten tödlich, wenn das Gehirn nicht getroffen wird. Und in diesem Zustand konnte der Unbekannte sein Opfer nach Belieben herumführen. Ich sagte der Unbekannte, Singular, weil es nämlich nur einer war.«
Eine kurze Pause. »Aber... wir haben zwei verschiedene Fußspuren.« Banks flüsterte beinahe, so als entschärfe er gerade den Zünder einer Landmine.
Rhyme seufzte. »Das Sohlenmuster ist identisch. Sie wurden von ein und demselben Mann hinterlassen, der die Strecke zweimal gegangen ist. Um uns zum Narren zu halten. Außerdem sind die nach Norden führenden Abdrücke genauso tief wie die in Richtung Süden. Was nicht sein kann, wenn er auf dem Hinweg eine zwei Zentner schwere Last getragen hat, nicht aber auf dem Rückweg. War das Opfer barfuß?«
Banks blätterte in seinen Notizen. »In Socken.«
»Na schön, dann haben wir es mit einem schlauen Täter
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