Der Knochenjäger
zu tun, der die Schuhe des Opfers angezogen hat und damit einmal zur Leiter und zurück spaziert ist.«
»Wenn er nicht die Leiter hinabgestiegen ist, wie ist er dann zu dem Grab gekommen?«
»Er hat den Mann auf dem Gleis entlanggeführt. Vermutlich kam er von Norden.«
»In beiden Richtungen gibt's kilometerweit keine anderen Leitern, über die man auf das Bahngelände gelangen könnte.«
»Aber es gibt unterirdische Gänge, die parallel zu den Gleisen verlaufen«, führ Rhyme fort. »Und die wiederum sind teilweise von den Kellern der alten Lagerhäuser an der Eleventh Avenue aus zugänglich. Ein Gangster - ein gewisser Owney Madden - ließ sie während der Prohibition graben, damit er seinen schwarz, gebrannten Whiskey klammheimlich per Eisenbahn von New York aus nach Albany und Bridgeport verfrachten konnte.«
»Aber wieso hat er das Opfer dann nicht in der Nahe eines dieser Gänge vergraben? Warum schleppt er den Typ bis kurz vor den Eisenbahntunnel und riskiert dabei, daß ihn eventuell jemand sieht?«
Rhyme reagierte unwirsch. »Sie verstehen doch, was er uns mitteilen will, nicht wahr?«
Banks wollte etwas sagen, schüttelte dann aber nur den Kopf.
»Er mußte die Leiche an eine Stelle bringen, wo man sie sieht«, sagte Rhyme. »Jemand mußte sie finden. Deswegen ließ er die linke Hand in die Luft ragen. Er winkt uns gewissermaßen zu. Will auf sich aufmerksam machen. So leid es mir tut, aber ihr habt es vermutlich nur mit einem Täter zu tun, doch der ist schlau genug für zwei. Irgendwo in der Nahe gibt es bestimmt einen Zugang zu einem Tunnel. Steigt da runter und sucht nach Spuren. Fingerabdrücke werdet ihr mit Sicherheit nicht entdecken. Aber ihr müßt es trotzdem tun. Die Presse, ihr wißt schon. Wenn die Geschichte erst mal rauskommt ... Nun denn, viel Glück, meine Herren. Und jetzt müßt ihr mich entschuldigen. Lon?«
»Ja?«
»Vergeßt den eigentlichen Tatort nicht. Egal, was passiert, ihr müßt ihn finden. Und zwar schnell.«
»Danke, Linc. Lies doch mal den Bericht durch.«
«Natürlich«, sagte Rhyme und stellte fest, daß sie ihm glaubten. Vorbehaltlos.
DREI
Er hatte die besten Manieren, die Rhyme jemals bei einem Besuch an seinem Krankenbett erlebt hatte. Und wenn jemand Erfahrung mit so etwas hatte, dann war es Lincoln Rhyme. Er hatte einmal nachgerechnet, daß er in den letzten dreieinhalb Jahren achtundsiebzig approbierte Ärzte zu Gesicht bekommen hatte.
»Hübsche Aussicht«, sagte Dr. Berger mit einem Blick aus dem Fenster.
»Wunderschön. Nicht wahr?«
Doch wegen der Höhe des Bettes konnte Rhyme nichts als die schwüle Dunstglocke über dem Central Park sehen. Das - und die Vögel - war im wesentlichen der Ausblick, den er genoß, seit er vor zweieinhalb Jahren aus der letzten Rehaklinik hierhergezogen war. Meistens ließ er die Vorhänge zugezogen.
Thom war damit beschäftigt, ihn hin und her zu rollen - dadurch blieb seine Lunge frei - und ihm danach einen Blasenkatheter zu legen, was alle fünf, sechs Stunden gemacht werden mußte. Nach einer Rückenmarkverletzung erschlaffen die Schließmuskeln entweder, oder sie verkrampfen sich. Rhyme hatte das Glück, daß seine dichthielten - Glück freilich nur unter der Voraussetzung, daß jemand da war, der die widerspenstige kleine Röhre viermal am Tag mit Hilfe eines Katheters und etwas Vaseline öffnete.
Ungerührt verfolgte Dr. Berger die Prozedur, und Rhyme störte sich nicht an diesem Eindringen in seine Intimsphäre. Schamgefühl ist mit das erste, was man als Krüppel überwindet. Manchmal macht sich das Pflegepersonal zwar die Mühe, einen Sichtschutz aufzustellen, versucht den Körper beim Waschen, bei der Notdurft oder beim Untersuchen zumindest halbwegs zu verhüllen, doch die wirklich Schwerbehinderten, die echten Krüppel scheren sich nicht darum. In Rhymes erster Rehaklinik war es beispielsweise üblich, daß sämtliche Patienten auf der Station sich mit ihren Rollstühlen zum Bett eines Schicksalsgenossen begaben, der am Vorabend eine Party besucht oder anderweitig Ausgang gehabt hatte, und sich davon überzeugten, wieviel Urin er ausschied, denn das war der Gradmesser dafür, wie erfolgreich das Unternehmen gewesen war. Rhyme erntete einmal die grenzenlose Bewunderung seiner Zimmergenossen, als man bei ihm atemberaubende 1430 Kubikzentimeter maß.
»Schauen Sie mal zum Fenstersims, Doktor«, sagte er zu Berger. »Ich habe meine persönlichen Schutzengel.«
»Je nun.
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