Der Knochenmönch
weiter. Befand sich der Killer noch in der Nähe?
Horace F. Sinclair hatte das Gefühl, als würde ihm gestoßenes Eis über den Rücken rutschen. Seine Angst war plötzlich da. Wie eine Lohe schoß sie ihm in den Kopf, für einen Moment verlor er die Übersicht, und die Haut auf seinem Rücken zog sich zusammen.
Der Anfall ging vorbei. Tief durchatmen.
Sich nicht verrückt machen lassen. Er mußte die Nerven behalten, denn was der sterbende Freund ihm gesagt hatte, ließ Schlimmes vermuten.
Möglicherweise eine Ungeheuerlichkeit, über deren Tragweite er sich noch nicht im klaren sein konnte. Es deutete auf eine gewaltige Verschwörung hin, die die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern konnte.
Allein würde er sowieso nicht dagegen ankämpfen können. Da mußte ihm schon jemand zur Seite stehen. Und es gab nur einen Menschen, dem er völlig vertraute. Seinem Sohn John!
Noch immer hockte er geduckt und regelrecht eingeklemmt in der Kirchenbank. »Mach’s gut, alter Junge. Wir sehen uns irgendwann wieder, bestimmt sogar.« Sinclair streckte den linken Arm aus und schloß die Augen des Toten. Er konnte den Blick einfach nicht mehr ertragen, denn er hatte das letzte Strahlen längst verloren.
Mit der rechten Hand stemmte er sich ab. Dann drückte er sich langsam hoch, und er spürte, daß die Tränen über seine Wangen liefen. Sinclair trauerte, er bemerkte nicht das Blut an seinen Händen, er dachte nur daran, daß er jetzt gewisse Dinge einleiten mußte, um die Verschwörung aufzudecken.
Irgend jemand lauerte im Hintergrund, der die Macht an sich reißen wollte.
Da war sogar der Name Luzifer gefallen. Noch im Nachhinein spürte der alte Herr den Schauder, der ihm bei der Nennung dieses Namens über den Rücken gelaufen war.
Sinclair verließ die Bank mit schlurfenden Schritten. Seine alten Knochen waren vom langen Knien steif geworden, auch im Rücken zog es.
Er fühlte sich verloren, als er in der Mitte stehenblieb. Es wäre vernünftig gewesen, die Kirche fluchtartig zu verlassen, und er ärgerte sich jetzt, daß er den Fahrer nicht hatte warten lassen. So mußte er sehen, wie er aus dieser Einsamkeit zurück in die Stadt gelangte.
Wieder erinnerte er sich an den Pfarrer, den er nicht gesehen hatte. In jeder Kirche gab es einen Geistlichen. Es war vielleicht sinnvoll, wenn er ihn suchte und dann mit ihm redete. Dabei fiel ihm der Name ein, den William genannt hatte.
Driscoll!
Wahrscheinlich wußte dieser Mann mehr, aber ihn mußte man erst finden. Darum konnte sich sein Sohn John Sinclair kümmern.
Einen letzten Blick warf er auf den Toten, bevor er auf den Ausgang zuschritt. Seine Lippen zuckten, ein Wort brachte er nicht hervor, und so schlurfte er weiter auf die Tür zu, sehr angespannt, auf einen Überfall gefaßt.
Man ließ ihn in Ruhe.
Draußen war es heller. Der graue Himmel schimmerte über dem Geflecht der Äste und Zweige, aber die Stimmung des alten Herrn besserte sich nicht.
Die Kirchentür war hinter ihm zugefallen wie der Deckel eines Sargs. Der Vergleich paßte, denn Sinclair hatte einen alten Freund in einem riesigen Steinsarg zurückgelassen.
Er fror. Zur äußeren Kälte gesellte sich noch die innere, und er spürte auch den Druck auf seinen Augen. Erst jetzt sah er sich seine Hände näher an.
Das Blut klebte nicht nur auf den Innenflächen, es hatte sich auch auf seinen Handrücken festgesetzt, und seine Kleidung war ebenfalls beschmutzt.
Über ihm segelten graue Wolken am Himmel, unter denen schwarze Vögel ihre Bahnen zogen, als wollten sie zu Ehren eines Toten ihre Runden drehen.
Horace fühlte sich allein, verlassen. Nach wie vor verspürte er ein Gefühl der Bedrohung. Wer immer seinen Freund Cartland getötet hatte, es war ein Killer der besonderen Sorte gewesen, den selbst der heilige Ort einer Kirche nicht abgeschreckt hatte.
Was mußte das nur für ein Mensch sein!
Sinclair schritt um die Kirche herum und gelangte an die Westseite des Gebäudes.
Der Regen und der Wind hatten das Gestein gezeichnet. In den Fugen wuchs dichtes Moos, das zu dieser winterlichen Zeit einen grauen Farbton angenommen hatte. Auch das Glas der Fenster hatte viel von seiner ursprünglichen Farbe verloren. Oben im Kirchturm schwieg die Glocke.
Nur die eigenen Tritte hörte der Mann. Ansonsten war es still. Kein Auto, dessen Motor gestartet wurde, keine Stimmen, nur dieses bedrückende Schweigen.
Die Mauer lag links von ihm. Sie umgab das kleine Gräberfeld eines Friedhofs an der
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