Der Koch
kalt gespült. Er fürchtete, sie könnten zusammenfallen, wenn sie nicht bald in den Backofen kämen.
»Geh doch bitte mal nachsehen«, bat er sie nun schon zum zweiten Mal.
Sie ging hinaus und überlegte, ob sie anklopfen oder nur sich räuspern sollte. Aber schon auf halbem Weg zur Tür drangen Geräusche aus dem Raum, die ihr diese Entscheidung abnahmen.
Sie kehrte in die Küche zurück und sagte: »Auftrag erfüllt, ich glaube, die verzichten auf Dessert und Friandises.«
Nach diesem ersten Auftrag waren Andreas Zweifel verflogen. Die Rückmeldungen der Meilingers an ihre Therapeutin waren so positiv, dass Esther Dubois bereits am nächsten Tag weitere Aufträge in Aussicht stellte. Die Nettoeinkünfte nach Abzug der Rohstoffe und des Einstandspreises für Champagner und Wein betrugen beinahe tausendvierhundert Franken. Die Arbeit war leicht, sie hatte unter keinen Vorgesetzten zu leiden, und Maravan war ein ruhiger, höflicher und unaufdringlicher Arbeitskollege.
Aber den Ausschlag gab die Tatsache, dass
Love Food
ihre Idee war. Darauf musste man erst einmal kommen, die kulinarischen Verführungskünste eines tamilischen Asylbewerbers sexualtherapeutisch einzusetzen. Und die richtigen Beziehungen, um diese Idee zu vermarkten, musste man auch erst einmal haben.
Was Andrea unter anderem an ihrem Beruf langweilte, war das Fehlen der Kreativität. Immer hatte sie Ideen und nie Gelegenheit, sie umzusetzen. Das hatte sich mit
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gründlich geändert. Die Idee war ihr Baby, sie war stolz darauf. Und wenn sie sogar Geld brachte, sah sie nicht ein, weshalb sie sie aufgeben sollte.
Als kurze Zeit später Esther Dubois sie um einen neuen Termin für ein Patientenpaar bat, zögerte sie keine Sekunde. Und auch von Maravan kamen keine Bedenken. Außer der Frage: »Sind sie verheiratet?«
Die meisten waren Paare über vierzig aus Einkommensklassen, die sowohl die Existenz solcher Probleme als auch deren Therapie erlaubten. Maravan erhielt plötzlich tiefe Einblicke in eine Gesellschaftsschicht, mit der er, es sei denn aus großer Distanz als Koch in der Luxushotellerie Südindiens und Sri Lankas, bisher nicht in Kontakt gekommen war. Er betrat Wohnungen und Häuser, in denen jeder Stuhl und jeder Wasserhahn den Geldbedarf seiner Angehörigen zu Hause für viele Monate hätte decken können.
Er bewegte sich in ihren Küchen wie ein Eingeweihter, und doch fühlte er sich wie ein blinder Passagier in den Raumfahrzeugen Außerirdischer.
Maravan hatte geglaubt, dass ihm in den Jahren, die er in diesem Land verbracht hatte, die Mentalität und Kultur seiner Bewohner vertrauter geworden war. Aber jetzt, wo er hinter die Kulissen sah, wurde ihm bewusst, wie fremd ihm diese Menschen und ihre Probleme waren. Wie sie sprachen, wie sie wohnten, wie sie sich kleideten, was ihnen wichtig war - alles kam ihm seltsam vor.
Er hätte lieber seine Distanz gewahrt. Er litt darunter, dass er gezwungen war, in die Intimität dieser Leute einzudringen. Schon früher hatte er sich daran gestört, dass diese Menschen keinen Wert darauf zu legen schienen, ihre Intimsphäre zu wahren. Sie küssten sich in der Öffentlichkeit, sie sprachen im Tram über die persönlichsten Dinge, Schulmädchen kleideten sich wie Prostituierte, in den Zeitungen, im Fernsehen, im Kino, in der Musik ging es immer um Sex.
Er wollte das alles nicht wissen, nicht sehen, nicht hören. Nicht, weil er prüde war. Wo er herkam, verehrte man das weibliche Prinzip als Urkraft der Welt. Seine Götter besaßen Penisse und seine Göttinnen Brüste und Vaginas. Die Mütter seiner Götter waren keine Jungfrauen. Nein, er hatte kein gestörtes Verhältnis zur Sexualität. Sie spielte eine wichtige Rolle in seiner Kultur, Religion, Medizin. Aber hier war sie ihm peinlich. Und er ahnte auch, weshalb: weil sie diesen Menschen trotz ihrer Allgegenwart tief im Innersten peinlich war.
Aber das Geschäft lief. Bereits in der vierten Woche nach Mellingers hatte
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fünf Termine in einer einzigen Woche. Und für die sechste waren sie zum ersten Mal ganz ausgebucht.
Ende September teilten sie sich einen Reingewinn von fast siebzehntausend Franken. Steuerfrei.
OKTOBER 2008
19
Ausgebucht zu sein bedeutete für Maravan, dass er den ganzen Tag und die halbe Nacht in der Küche stand. Um sechs Uhr früh begann er mit den Vorbereitungen für den nächsten Tag, kurz nach Mittag fuhr Andrea mit dem Kombi vor, und sie begannen mit dem Verladen der Thermoboxen und
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