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Der Koch

Der Koch

Titel: Der Koch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Gehilfin die Frau mit ein paar tröstenden Worten verabschiedete. Kurz vor sechs wurde er ins Sprechzimmer geführt.
    Dr. Kerner mochte um die fünfzig sein. Er hatte widerspenstiges braunes Haar und müde Augen in einem jugendlichen Gesicht. Er trug einen offenen Arztkittel und ein Stethoskop, wohl mehr als vertrauensbildende Maßnahme als aus Notwendigkeit. Als Maravan eintrat, blickte er von dessen Patientenkarte auf, deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und wandte sich wieder der Krankengeschichte zu. Maravan war vor längerer Zeit wegen einer Verbrennung bei ihm gewesen, die er sich beim Hantieren mit einer Kippbratpfanne in einer Großküche zugezogen hatte.
    »Es geht nicht um mich«, erklärte Maravan, als die Assistentin gegangen war. »Es geht um meine Großtante in Jaffna.«
    Er erzählte von Nangays Krankheit und der Schwierigkeit, das Medikament zu beschaffen.
    Dr. Kerner hörte zu, immer wieder nickend, als kenne er die Geschichte längst. »Und jetzt möchten Sie ein Rezept«, sagte er, noch bevor Maravan geendet hatte.
    Er nickte.
    »Kreislauf, Blutdruck, Herzkranzgefäße: alles in Ordnung bei Ihrer Großtante?«
    »Ihr Herz ist stark«, antwortete Maravan. »>Wenn nur mein Herz nicht so stark wäre<, sagt sie immer, >dann würde ich euch längst nicht mehr zur Last fallen.<«
    Dr. Kerner nahm seinen Rezeptblock. Während er schrieb, sagte er: »Es ist ein teures Medikament.« Er riss das Blatt ab und schob es über den Schreibtisch. »Ein Dauerrezept für ein Jahr. Und wie kommt das Mittel zu Ihrer Großtante?«
    »Per Kurier nach Colombo und von dort aus« - Maravan hob die Schultern - »irgendwie weiter.«
    Dr. Kerner stützte das Kinn in die Hand und überlegte. »Eine Bekannte von mir arbeitet für Medecins sans Frontieres. Sie wissen, dass die sri-lankische Regierung alle Hilfsorganisationen zum Ende des Monats aus dem Norden ausgewiesen hat. Sie fliegt morgen nach Colombo mit dem Auftrag, der Delegation beim Umzug zu helfen. Ich könnte sie fragen, ob sie die Medikamente mitnimmt. Was meinen Sie?«
     

20
    In diesen Tagen feierten die Hindus Navarathiri, den Kampf des Guten gegen das Böse.
    Als sich die Götter einmal hilflos fühlten gegen die Mächte des Bösen, trennten sie sich alle von einem Teil ihrer göttlichen Kraft und formten daraus eine neue Göttin, Kali. In einem schrecklichen Kampf, der neun Tage und Nächte dauerte, besiegte sie den Dämon Mahishasura.
    Wenn sich dieser Kampf jährt, beten die Hindus neun Tage lang zu Saraswati, der Göttin des Lernens, zu Lakshmi, der Göttin des Reichtums, und zu Kali, der Göttin der Macht.
    An jedem Tag und Abend von Navarathiri hatte Maravan einen Termin. Alles, wozu er noch in der Lage war, wenn er spät und müde nach Hause kam, war, seine Puja, die tägliche Andacht vor dem Hausaltar, etwas länger und feierlicher zu gestalten und den Göttinnen ein wenig von dem Essen zu opfern, das er beim Kochen für sie beiseitegeschafft hatte. Lakshmi hatte er immerhin zu verdanken, dass er kaum mehr Schulden und genug Geld hatte, um davon regelmäßig nach Hause zu schicken.
    Doch am zehnten Tag setzte er sich gegen Andrea durch. An Vijayadasami, der Nacht des Sieges, war er wie jedes Jahr, seit er sich erinnern konnte, im Tempel.
    Er hatte sie schon vor Wochen darauf aufmerksam gemacht, und sie hatte das Datum in ihrem Terminkalender dick angestrichen. Aber ein paar Tage später war sie zu ihm gekommen und hatte beiläufig bemerkt: »Ich musste was annehmen an deinem unaussprechlichen Feiertag, schlimm?«
    »An Vijayadasami?«, fragte er ungläubig.
    »Die hätten sonst erst wieder in drei Wochen gekonnt.«
    »Dann sag wieder ab.«
    »Das kann ich doch jetzt nicht mehr.«
    »Dann musst du kochen.«
    Andrea sagte wieder ab. Und sie hatten den ersten Konflikt in ihrer jungen Geschäftsbeziehung zu verbuchen.
     
    In der Nacht hatte es stark geregnet. Den ganzen Tag lag eine rußgraue Hochnebeldecke über dem Mittelland. Aber es war fast zwanzig Grad warm und trocken. Die Prozession zog singend, trommelnd und händeklatschend hinter dem Wagen mit dem Bildnis von Kali über den aus diesem Anlass geräumten Parkplatz vor dem Industriebau, in dem der Tempel lag.
    Maravan hatte sich dem Zug angeschlossen. Er trug, im Gegensatz zu vielen anderen Männern, die traditionell gekleidet waren, Anzug, weißes Hemd und Krawatte. Nur das Segenszeichen, das ihm der Priester auf die Stirn gemalt hatte, zeigte, dass er kein unbeteiligter Zuschauer

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