Der Koch
des anderen Küchenmaterials.
Die Arbeit war hart und ein wenig eintönig, weil er jedes Mal das exakt gleiche Menü kochen musste. Aber Maravan genoss die Selbständigkeit, die Anerkennung und die Gesellschaft von Andrea. Sie kamen sich jeden Tag näher, nur leider nicht auf die Art, die er sich erhoffte. Sie wurden Kollegen, die gerne miteinander arbeiteten, und waren vielleicht auf einem guten Weg, Freunde zu werden.
An einem dieser Mittage brachte Andrea ein Bündel Post mit, das aus seinem überfüllten Briefkasten herausgeragt hatte. Zwischen den Flyern und Prospekten, die der Austräger in mehrfacher Ausführung in den Schlitz gestopft hatte, um seine Bürde schneller loszuwerden, steckte ein Luftpostbrief, der in kindlicher Schrift an Maravan adressiert war. Er kam von seinem Neffen Ulagu und lautete:
»Lieber Onkel,
ich hoffe, es geht Ihnen gut. Uns geht es nicht so gut. Hier gibt es viele, die vor dem Krieg nach Jaffna geflüchtet sind. Das Essen reicht oft nicht für alle. Die Leute sagen, wir werden den Krieg verlieren, und haben Angst vor dem, was nachher passiert. Nangay sagt aber, schlimmer könne es nicht werden.
Wegen Nangay schreibe ich Ihnen diesen Brief. Es geht ihr sehr schlecht, aber sie will nicht, dass Sie es erfahren. Sie ist ganz dünn, trinkt den ganzen Tag nur Wasser und macht jede Nacht ins Bett. Der Arzt sagt, wenn sie ihr Medikament nicht bekommt, wird sie vertrocknen. Er hat mir aufgeschrieben, was sie hat und wie das Medikament heißt. Vielleicht bekommen Sie es dort und können es uns schicken. Ich will nicht, dass Nangay vertrocknet.
Ich grüße Sie und danke Ihnen. Ich hoffe, dass der Krieg bald vorbei ist und Sie zurückkommen können. Oder ich komme zu Ihnen und arbeite als Koch. Ich kann es schon ziemlich gut.
Ihr Neffe Ulagu«
Ulagu war der älteste Sohn seiner jüngsten Schwester Ragini. Er war elf gewesen, als Maravan das Land verließ. Wegen Ulagu war ihm der Abschied am schwersten gefallen. So wie er war auch Maravan als Junge gewesen. Still, verträumt und ein wenig verschlossen. Und wie Maravan wollte er Koch werden und verbrachte viel Zeit bei Nangay in der Küche.
Wegen Ulagu hatte Maravan manchmal das Gefühl, sich selbst zurückgelassen zu haben. Und ihm hatte er es auch zu verdanken, dass er immer noch ein wenig dort war.
»Schlechte Nachrichten?« Andrea hatte ihn beim Lesen beobachtet, während sie das Material von der Küche auf den Treppenabsatz trug.
Maravan nickte. »Mein Neffe schreibt, meiner Großtante gehe es sehr schlecht.«
»Der Köchin?«
»Ja.«
»Was hat sie?«
Maravan las von dem Zettel ab, der dem Brief beilag: »Diabetes insipidus.«
»Meine Großmutter hat schon seit Jahren Diabetes«, tröstete Andrea. »Damit kann man uralt werden.«
»Es ist keine Diabetes, es heißt nur so. Man trinkt ununterbrochen, aber man kann das Wasser nicht behalten und vertrocknet mit der Zeit.«
»Kann man es behandeln?«
»Ja. Aber man bekommt das Medikament nicht.«
»Dann musst du versuchen, es hier zu bekommen.«
»Das werde ich.«
Das Wartezimmer war klein und überfüllt. Fast alle Patienten waren Asylbewerber. Die meisten davon Tamilen, ein paar Eritreer und Iraker. Dr. Kerner war in den letzten Jahren, mehr zufällig als gewollt, zum Asyldoktor geworden. Es hatte damit begonnen, dass er eine tamilische Arztgehilfin eingestellt hatte. Bald hatte es sich in der tamilischen Diaspora herumgesprochen, dass man bei Dr. Kerner Tamil sprechen konnte. Später kamen die ersten Afrikaner, und jetzt auch die Iraker.
Maravan war fast eine Stunde gestanden, bis er einen Stuhl geerbt hatte. Jetzt waren noch vier Patienten vor ihm.
Er war hier in der Hoffnung, ein Rezept zu bekommen. Vielleicht konnte er ihr das Medikament schicken. Das wurde zwar immer schwieriger, aber es gab immer noch Wege. Er wäre dafür zwar auf die Dienste der LTTE angewiesen, aber das würde er in Kauf nehmen, schließlich ging es um das Leben von Nangay.
Die letzte Patientin vor Maravan wurde gerufen. Es war eine ältere Tamilin. Sie stand auf, verbeugte sich mit zusammengelegten Händen vor der Abbildung von Shiva an der Wand und folgte der Arztgehilfin.
Im Wartezimmer von Dr. Kerner hingen Shiva, Buddha, Kruzifix und die Kalligraphie eines Koranverses einträchtig nebeneinander. Das passte zwar nicht allen Patienten, aber wer sich daran stieß, brauchte nicht in seine Sprechstunde zu kommen, fand der Arzt.
Es dauerte lange, bis Maravan hörte, wie die
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