Der Koch
sich auch keine Mühe, dies zu verbergen. Rasch geriet er in die Situation des Schulanfängers, der bei Schuleintritt schon schreiben und lesen kann: Er ging den Lehrern und den Mitschülern mit seinem Wissen auf die Nerven. Obwohl er in einem Personalhaus auf engem Raum mit ihnen zusammenlebte, fand er keinen Anschluss an seine Kollegen und Vorgesetzten. Auch die Freundin von Nangay ging auf Distanz zu ihm, sie befürchtete, dass er es als ihr Protege noch schwerer haben könnte.
Maravan blieb viel allein und konzentrierte sich ganz aufs Lernen, was ihn noch unbeliebter machte. In seiner Freizeit unternahm er lange Spaziergänge am endlosen menschenleeren Strand. Oder er übte stundenlang elegante Kopfsprünge in die beharrlich heranrollenden Brecher des indischen Ozeans.
In Kerala war Maravan zum Einzelgänger geworden. Und war es bis heute geblieben.
Die Chapatis waren fertig. Er nahm sich eines, träufelte ein wenig von dem frischen Konzentrat darauf, schloss die Augen und sog den Duft ein. Dann nahm er einen Biss, kaute ihn sorgfältig, behielt ihn im Mund, hob ihn mit der Zunge an den Gaumen, atmete langsam durch die Nase aus - von den missratenen Proben würde er dieser die zweithöchste Punktezahl geben, die Neun. In ein Notizbuch mit dem Titel »Extrakte« notierte er Datum, Zeit, Zutaten, Destillierdauer und Temperatur.
Darauf aß er das Produkt seines Experimentes als Würze der frischen Chapatis hastig und ohne großen Appetit, wusch die Kolben und Röhren seiner Anlage, stellte sie zum Trocknen auf die Spüle, machte das Licht aus und ging zurück in sein Wohnzimmer.
Dort, auf einem kleinen Tisch an der Wand, stand ein veralteter Secondhand-Computer. Maravan schaltete ihn ein und wartete geduldig, bis er aufgestartet hatte. Er stellte die Verbindung zum Internet her und sah nach, wie die Versteigerung des Rotationsverdampfers stand, die er seit ein paar Tagen verfolgte. Tausendvierhundertdreißig, gleich wie gestern. Noch zwei Stunden und zwölf Minuten bis Versteigerungsschluss.
Ein Rotationsverdampfer würde das, was er auch heute wieder vergeblich versucht hatte, in der richtigen Zeit, mit der richtigen Temperatur, ohne Anbrennen und ohne Geschmacksbeeinträchtigung erledigen. Nur kostete so ein Ding über fünftausend Franken, ein Vielfaches von dem, was sich Maravan leisten konnte. Manchmal wurden gebrauchte ältere Modelle bei Internetversteigerungen angeboten, wie das vor ihm auf dem Bildschirm.
Weniger als tausendfünfhundert war ein guter Preis. Tausendzweihundert hatte Maravan auf der Seite. Und den Rest würde er irgendwie auftreiben, falls der Preis nicht weiter stieg. Er würde die zwei Stunden abwarten und kurz vor Auktionsschluss mitbieten. Vielleicht hatte er Glück.
Er nahm den Brief seiner Schwester vom Tisch und las ihn zu Ende. Erst auf der letzten Seite kam sie zum Punkt: Nangay war krank,
Diabetes insipidus.
Das sei keine wirkliche Diabetes. Sie habe den ganzen Tag Durst, trinke literweise und müsse ständig auf die Toilette. Es gebe ein Medikament dagegen, aber es sei teuer und kaum erhältlich in Jafma. Aber wenn sie es nicht nehme, vertrockne sie, sage der Arzt.
Maravan seufzte. Er ging zurück zum Bildschirm. Immer noch tausendvierhundertdreißig. Er schaltete den Computer aus und ging schlafen. Im Treppenhaus hörte er die Schritte von Gnanam auf dem Weg zur Frühschicht.
3
Ein paar Tage später kam es in der Küche des Huwyler zu einer Szene, die für Maravan Folgen haben sollte. Anton Fink hatte eine Vorspeise kreiert, die er »Glasierte Langostinas mit Reiskrokant auf Currygelee« nannte und morgen ins Menu Surprise aufnehmen wollte. Maravan beobachtete von der Topfspüle aus, wie der Koch das Curry für das Gelee zubereitete: Er dünstete etwas feingehackte Zwiebel an, mischte ein Fertigcurrypulver darunter und rief: »Maravan! Kokosmilch!«
Maravan holte eine Dose Kokosmilch aus einem Schrank, schüttelte sie kräftig, öffnete sie und brachte sie dem Demichef de Partie. Während dieser etwa die Hälfte davon in die Pfanne goss, sagte Maravan: »Wenn du willst, mache ich dir das nächste Mal ein richtiges Curry.«
Fink legte die Kelle neben die Pfanne, wandte sich zu Maravan, musterte ihn von oben bis unten und sagte: »So, so, ein richtiges Curry. Ich muss mir also vom Küchengehilfen zeigen lassen, wie man kocht. Habt ihr das gehört?«
Er war laut geworden, und die Köche in der Nähe hoben die Köpfe.
»Maravan hier hat mir einen Kochkurs
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