Der König der Diamanten
dazu bringen, dieses Verhältnis zu beenden? Franz hatte die Türe geschlossen und hörte deshalb oben weder Jana fallen noch Katya den Gang entlanglaufen. Dass Vanessa in den Hof hereinfuhr und Titus hinausging, um sie zu begrüßen, hörte er hingegen. Und wahrscheinlich war es die Anstrengung, mit der er versuchte, das Gespräch der beiden unten zu verfolgen, welche ihn die Geräusche seiner Schwester wahrnehmen ließ, die an Katyas Tür hämmerte und um Hilfe schrie.
Er rannte hinauf, konnte sie aber nicht sofort befreien. Zwar hatte er Ersatzschlüssel für jedes Zimmer im Haus, auch für Titus’ Arbeitszimmer, doch waren die unten in seinem Zimmer. Er musste also erst dorthin zurückkehren und den Ersatzschlüssel für Katyas Zimmer holen. Als er dieses dann schließlich betreten konnte, half er seiner Schwester aufs Bett und hörte sich geduldig an, was geschehen war. Er war nicht böse auf Jana, im Gegenteil: Er gab sich selbst die Schuld. Er hätte mit ihr mitgehen müssen, um Katya die Spritze zu geben. Der Umstand, dass das Mädchen beim vorigen Mal keinen Widerstand geleistet hatte, konnte keine Garantie für das nächste Mal sein. Und sie hatte Jana ganz offensichtlich in den Rücken getreten, als die am Boden lag. Er hatte also in der Tat eine Rechnung mit der kleinen Katya zu begleichen, sobald er sie fand – was allerdings rasch der Fall sein musste. Vanessa Trave war unten, und sie durfte nicht wissen, was hier vor sich ging. Erneut ballte Franz die Fäuste vor ohnmächtiger Wut. Warum wollte Titus partout nicht machen, was er wollte? Die Frau war verdammt noch mal mit einem Police Inspector verheiratet, und zwar mit dem, der nach Ethans Tod all diese unangenehmenFragen gestellt und seine Nase in die Angelegenheiten fremder Leute gesteckt hatte. Sie und Trave lebten getrennt – na und? Wahrscheinlich redeten sie trotzdem miteinander. Hätte Titus sie nicht wenigstens irgendwo anders hinbestellen können? Nein, nein, immer nur nein. Es musste immer alles nach seinem Kopf gehen.
Franz sah seine Schwester an und überlegte, was er tun sollte. Sie war zu schwer verletzt, um bei der Suche zu helfen. So viel war klar. Und es gab keine Zeit zu verlieren.
»Bleib hier, Jani, ich komm wieder, wenn ich sie habe«, sagte er auf Flämisch. Seine Stimme klang barsch, trotzdem war Jana froh, dass ihr Bruder sie mit ihrem Kosenamen anredete.
»Ja. Es tut mir leid, Franz«, sagte sie erleichtert. »Sie ist durchgedreht. Ich hab nicht damit gerechnet.«
»Ich weiß. Ruh dich jetzt aus! Ich bin bald zurück.« Er nahm die Hand seiner Schwester, drückte sie kurz und ließ dann los.
Das war das Äußerste, was Franz Claes an Zärtlichkeit aufbringen konnte. Aber er hing an seiner älteren Schwester. Sie hatten viel erlebt zusammen. Und bei der Vorstellung, dass die kleine Katya sie herumgeschubst und getreten hatte, wurde er zornig. Sein Magen wollte sich vor Wut verkrampfen. Doch er ließ es nicht zu und war stolz darauf – seine Gefühle hatte er immer unter Kontrolle.
Er ging hinaus auf den Gang und blieb einen Moment stehen, um zu lauschen. Mit dem linken Zeigefinger fuhr er sich langsam über die lange weiße Narbe, die vom Haaransatz über dem linken Ohr bis zu einer rötlichen, aufgeworfenen Hautpartie direkt unter dem Kieferknochen reichte. Titus und diese Frau waren irgendwo unten, zu weit entfernt, als dass er sie hätte hören können. Es war Katya, der er nachlauschte. Doch das Einzige, was er hörte, war das schwere Atmen seiner Schwester im Raum hinter sich. Er blickte vom einen Ende des Ganges zum anderen, um zu entscheiden, in welche Richtung er gehen sollte. Das Haus war alt, vollerleerstehender Schränke und Nischen, in denen Katya sich verstecken konnte, und es gab zwei Treppen nach unten, an jedem Ende des Ganges eine. Er überlegte einen Moment, zuckte dann mit den Schultern und ging nach rechts.
Wenige Minuten später fing er an, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Von Zimmer zu Zimmer hatte er systematisch jede Spalte, jeden Winkel untersucht, doch von Katya keine Spur. Was, wenn er hier seine Zeit vergeudete? Und sie schon das Haus verlassen hatte und in diesem Moment schon aufs Haupttor unten zulief? Fenster und Türen waren zwar verschlossen, aber sie hätte sich ja hinter ihrem Onkel zur Eingangstür hinausschleichen können, als dieser nach draußen ging, um Vanessa zu begrüßen. Er wusste, dass Titus eine Störung vor dem Abendessen nicht sonderlich schätzen würde, aber er
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