Der König der Diamanten
doch Franz versprochen, er würde nach ihr suchen, also warum machte er es nicht?Stattdessen drehte er sich eine Sekunde später um und ging wieder in den Salon. Katya bewegte sich hin und her. Sie brauchte dringend Luft. Im Wandschrank war es stickig, und in der Enge ihres Verstecks bekam sie langsam Platzangst. Außerdem musste sie unbedingt wissen, was ihr Onkel zu der Frau sagte, die er da eingeladen hatte. Alle Vorsicht in den Wind schlagend trat sie in die Halle und drückte sich in eine Nische rechts neben der Salontür, um zu lauschen. Sie ging ein extrem hohes Risiko ein. Von der gesamten Halle aus war sie zu sehen, also würden Franz oder Jana sie sofort entdecken, sollten sie die Treppe herunterkommen. Doch instinktiv wusste sie, dass sie jetzt oder nie handeln musste, wenn sie etwas erreichen wollte.
»Verzeihung, Vanessa. Etwas ist passiert, und Franz braucht mich für ein paar Minuten. Es muss sein, so leid es mir tut. Kommst du so lange alleine zurecht?« Es war die Stimme ihres Onkels, und Vanessa antwortete sogleich.
»Ja, selbstverständlich«, sagte sie. »Aber soll ich nicht besser gehen? Wir können doch jederzeit etwas anderes ausmachen.«
Nein
, dachte Katya verzweifelt und presste wie beim Beten die Hände zusammen.
Nein, bitte geh nicht
. Doch sie musste sich keine Sorgen machen – sofort kam ihr Onkel ihr zu Hilfe.
»Das kommt nicht in Frage, Liebes«, sagte er. »Du würdest mir das Herz brechen, solltest du jetzt gehen. Auf diesen Abend freue ich mich schon die ganze Woche.« Diese formvollendete Höflichkeit, dachte Katya. Er ändert sich einfach nie.
»Mir geht es genauso«, sagte Vanessa erfreut. »Ich komme schon zurecht. Wie sollte ich auch nicht bei dieser wundervollen Aussicht?«
»Danke für dein Verständnis. Es dauert sicher nicht lange. Nimm dir noch einen Drink, wenn du möchtest. Alles ist dort drüben auf der Anrichte.«
Katya konnte kaum glauben, wie entspannt ihr Onkel klang. Nicht der leiseste Anflug von Besorgnis war in seiner Stimme zuhören. Aber kaum war er draußen in der Halle, wurde er ein anderer Mensch. Er blickte schnell nach rechts und links – nicht hinter sich, wo Katya stand – und ging dann schnurstracks in Richtung seines Arbeitszimmers und der Räume im hinteren Teil des Gebäudes. Es gab keine Zeit zu verlieren. Sie betrat den Salon und schloss vorsichtig die Tür hinter sich.
Vanessa hatte sich vom Kamin wegbewegt: Sie stand jetzt mit einem Glas Wein in der Hand vor dem hinteren Fenster und blickte hinaus in die Dämmerung. Als sie hörte, wie die Tür aufging, drehte sie sich um, um das Glas abzustellen. Als sie Katya erblickte, erschrak sie. Der verwahrloste Zustand des Mädchens war höchst beunruhigend. Weiß wie eine Wand schwankte Katya auf der Stelle, der Blick fast wahnsinnig und verzweifelt – um sich dann plötzlich nach vorne zu beugen, nach der Sofalehne zu greifen und so überhaupt aufrecht stehenzubleiben.
Vanessa bekam Angst und wollte umgehend um Hilfe rufen, doch Katya ahnte, was sie vorhatte. Verzweifelt führte sie den rechten Zeigefinger an den Mund und fixierte Vanessa eindringlich – Vanesssa verstummte.
»Wer sind Sie?«, fragte sie stattdessen. Doch kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, wurde ihr klar, dass sie die Antwort bereits wusste. Das Mädchen war die Nichte von Titus. Sie war auch bei der Dinner-Party hier in Blackwater Hall gewesen, zu der Bill sie nach David Swains Verurteilung mitgenommen hatte – an dem Abend, an dem sie Titus das erste Mal getroffen hatte. Ihr fiel ein, wie beeindruckt sie von der Schönheit dieses Mädchens gewesen war, den großen blauen Augen und dem langen blonden Haar, das kunstvoll in einen Chignon geknotet war. Und die Wangen waren stark gerötet gewesen, sicher auch durch ein bisschen zu viel Champagner, aber vor allem vor Aufregung über den Ausgang des Gerichtsverfahrens. Daran war nichts Verwerfliches. Aus dem Grund war die Gesellschaft schließlich auch zusammengekommen. Doch Vanessa erinnerte sich daran, dass dem Mädchen dieganze Sache ungemein nahezugehen schien. Swain, ihr ehemaliger Liebhaber, hatte Katyas neuen Freund in einem Anfall von Eifersucht getötet, und deswegen hasste sie ihn verständlicherweise. Ihr ganzes Wesen drückte aus, dass für sie lebenslänglich nicht genug sei, dass der Mann eigentlich hängen müsse. Vielleicht hatte sie es sogar laut gesagt. Vanessa wusste es nicht mehr. Auf jeden Fall hatte sich das Mädchen seither gewaltig verändert.
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