Der König Der Komödianten: Historischer Roman
konnten. Wie sie wohl den armen Onkel Vittore eingewickelt hatten, ihnen die Verwaltung seines Nachlasses – wie viel immer es auch war – zu überlassen?
In meiner Vorstellung nahm eine dramatische Geschichte Gestalt an, in der ein armer Waisenjunge um ein Haar dunklen Verschwörungen zum Opfer fiel, wäre nicht im letzten Augenblick Rettung erschienen, in Gestalt von … – ja, von wem? Vielleicht von einer den Tiefen des Waldes entstiegenen Quellnymphe, die sich auf den ersten Blick unsterblich in den schönen Jüngling verliebte und ihn mit ihren Zauberkräften beschützte? Und schon wurde ich in meiner Phantasie zu Paris und streifte durch die phrygischen Berge, auf dass mir dort Oinone verfalle. In meiner abgewandelten Version lebten wir allerdings nicht als Hirt und Hirtin in der Wildnis, sondern reisten gemeinsam zur prächtigsten aller Städte – Venedig. Wo wir Karneval feierten und auch sonst ein glückliches Leben führten, ohne die unerfreulichen Verwicklungen der bekannten Mythologie, die unweigerlich zum grässlichen Tod aller Beteiligten führten.
Der Notar riss mich aus meiner Versunkenheit. »Was glotzt du wie ein Schafsbock?«, wollte er wissen. »Bist du krank?«
»Es geht mir ausgezeichnet«, versicherte ich hastig. Mit einem Mal war ich froh, einen Dolch am Gürtel zu tragen, der notfalls zu mehr taugte als ein Stück Braten zu zersäbeln. Und ganz gewiss schadete es auch nicht, dass ich größer war, als der Prior es erwartet (gehofft?) hatte. Ein schöner Jüngling, in den sich Oinone hätte verlieben können, war ich nicht, denn mit diesem Zinken von Nase und der eher grobschlächtigen als feingliedrigen Gestalt war ich mehr Hephaistos als Paris. Dafür spaltete ich jedoch mit der Axt treffsicher jedes Holzscheit und schwang stundenlang die Sichel, ohne müde zu werden. Zumindest an diesem Tag würde ich mich von keinem Erbschleicher in eine Schlucht werfen lassen.
Schluchten sah ich zum Glück nirgends. Falls es welche gab, entzogen sie sich meinen Blicken. Die Reise führte durch die liebliche Landschaft des Veneto in östliche Richtung, durch grüne Täler und über sanfte Erhebungen, bis wir schließlich die Ausläufer der bewaldeten Euganeischen Hügel erreichten und deren Windungen folgten. Hin und wieder ging die Fahrt durch einen bewohnten Flecken, ähnlich dem Dorf, in dessen Nähe ich aufgewachsen war, und auch sonst präsentierte sich die Gegend in vergleichbar ereignisloser Ländlichkeit, die ich bereits zur Genüge kannte.
Wie mir der Prior erläuterte, befand sich das Dominikanerkloster, dem er vorstand, rund zwei Stunden Fußmarsch von Padua entfernt, südwestlich der Stadt gelegen, unweit eines Dorfes, in dem es thermische Quellen gab.
Als ich das hörte, dachte ich unwillkürlich an die Quellnymphe Oinone und fragte mich, ob das als Wink des Schicksals zu deuten sei. Ein solcher Ort verhieß Geheimnisse! Vielleicht sogar Begegnungen mit nymphengleichen weiblichen Geschöpfen!
Viele Frauen hatte ich außer Paulina bisher nicht kennengelernt, und von diesen wenigen war mir außerdem jede einzelne seit frühester Kindheit vertraut. In unserem Dorf gab es eine Handvoll junger Mädchen, doch darunter war keines, das auch nur entfernt einer Oinone oder sonstigen mythischen Schönheit glich. Sofern sie bisher überhaupt meine Phantasien beflügelt hatten, dann höchstens in der Weise, dass ich mir wünschte, der Wind möge ihre Röcke hochwehen, damit ich ihre Beine sehen konnte. Oder ihnen möchte etwas herunterfallen, damit sie sich bückten und dabei vielleicht ihr Brusttuch verlören. In Liebe war ich zu keiner entbrannt. Allein die Vorstellung kam mir absurd vor, denn dafür hatte ich sie alle miteinander bei zu vielen Sonntagsmessen oder Gemeindefesten gesehen.
Der Umstand, dass Padua von dem Kloster aus in relativ kurzer Zeit zu erreichen war, erfüllte mich mit zusätzlicherHoffung. Bestimmt würde sich bald einmal die Gelegenheit ergeben, die Stadt zu besuchen!
Aufregung bemächtigte sich meiner, während ich versuchte, mir eine richtige, große Stadt vorzustellen, mit hohen, wehrhaften Mauern, schmuckvollen Palästen und breiten, gepflasterten Straßen. Dort gab es Läden, in denen man kaufen konnte, was das Herz begehrte, jedenfalls hatte mir das Paulina erzählt, die früher mehrfach in Padua gewesen war, und man konnte in Schenken gehen, wo einem nicht nur Wein, sondern auch warme Mahlzeiten serviert wurden. Es gab eine Universität und einen botanischen
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