Der König von Havanna
erwachte, hatte man keine zwei Meter neben seinem Versteck eine Versuchung aufgebaut. Ein riesengroßes Handtuch lag auf dem Sand und darauf ein paar Kleidungsstücke, Tennisschuhe, Cremetuben, eine Flasche mit altem Rum, Gläser. Drei Leute tummelten sich sechzig Meter entfernt im Wasser. In seinem Kopf wirbelte es: »Das Handtuch mit alldem? Die Kleidung und die Tennisschuhe? Der Rum?« Er wartete ein paar Minuten. Die Leute hatten im Wasser großen Spaß. Fast auf dem Bauch robbte er über den Sand näher heran. Er griff nach den Kleidungsstücken und den Sportschuhen und zog sich wieder zurück. Erneut hielt er Ausschau nach allen Seiten. Sie hatten ihn nicht gesehen. Etwas nervös entfernte er sich. Die Zone hier war sehr still. Er zog seine schmutzigen und verschlissenen Klamotten aus und vertauschte sie mit einer kurzen, beigefarbenen Hose, einem ganz frischen Strandhemd und marineblauen Sportschuhen, die wie für ihn gemacht waren. Alles beste Marken. Aber wie man weiß, die Kutte macht noch keinen Mönch. Trotz seiner edlen Garderobe sah Rey weiterhin aus wie ein Hunger leidender Mulatte, spiddelig, unterernährt, Arme und Beine voller Blasen und eitriger Furunkel von den entzündeten Moskitostichen, das Haar zerzaust und schmutzig, die Augen trüb und vor allem verwirrt und hilflos, voller Angst, man könne ihm jederzeit einen Tritt in den Arsch versetzen.
Dennoch fühlte Rey sich besser. Zwar stank er noch, war aber gut gekleidet. Zumindest auf Entfernung sah er nicht aus wie ein Bettler, und die Polizisten würden ihn nicht mehr so hetzen.
Er beschloss, einen letzten Versuch zu unternehmen und nach Yunisleidi Ausschau zu halten. Er ging zu dem Haus. Als die alte Matrone ihn so gut gekleidet sah, musterte sie ihn freundlich lächelnd von oben bis unten. Sie versuchte nett zu sein.
»Yunisleidi hat sich nicht sehen lassen, aber du kannst ein Bett für dich alleine mieten.«
»Ich habe kein Geld.«
»Kein Geld? Bei dem, was du da anhast?«
»Hmmm.«
Es wurde Abend und schön kühl. Rey wanderte zur Hubbrücke, überquerte sie. Ein paar Polizisten waren mit jemandem beschäftigt, der hineinwollte. Rey beachteten sie nicht weiter. Das Problem war, hineinzukommen. Er ging weiter am Kanalufer entlang, ließ das Red Coach, das Oasis, Carbonera und die Agavenfelder hinter sich. Es wurde dunkel. Er ging immer weiter. Der Vollmond ging auf und tauchte alles in Blau. An der Küste schäumte es weiß gegen die Klippen, säuselten sanft die Wellen. Ein paar Mal blieb Rey stehen, um zu verschnaufen. Gedankenlos. Es gab nichts, an das er denken konnte. Nie hatte er es nötig gehabt, zu denken, Entscheidungen zu treffen, sich hierhin oder dorthin zu versetzen. Er spazierte nur in der kühlen Luft auf dem Gras am Straßenrand und betrachtete die blaue Nacht, das blaue Meer, die Stille der Unendlichkeit. Und er ging immer weiter, ließ Camarioca, den Leuchtturm von Maya, Canímar hinter sich. Als es schon fast dämmerte, kam er nach Matanzas. Er kannte die Stadt nicht. Nichts sagte ihm etwas. Er konnte weiter zu Fuß nach Havanna gehen. Aber das war nicht nötig. Am späteren Morgen sammelte ein Laster auf der Avenida de Tirry, gegenüber von einem alten, großen, baufälligen Haus mit der Nummer einundachtzig, mehrere Leute auf. Eine blonde, freundliche Frau, offenbar im Liebestaumel, schaute zwischen den Fensterläden hinaus. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen, aber alles blieb bei dem flüchtigen Lichtstrahl zwischen zwei Menschen, deren Blicke sich kreuzen und ein leises Schaudern in ihrem jeweiligen Magnetfeld verspüren und die dann wieder ihrer Wege gehen. Ahnungen gehen nicht immer in Erfüllung. Rey stieg auf den Laster, ohne zu fragen. Der Fahrer fing an zu kassieren: zehn Pesos bis Havanna. Vier weitere Leute stiegen auf. Dann noch zwei. Seit Stunden fuhren keine Autobusse nach Havanna, sagte jemand keuchend und genervt, der von der nahe gelegenen Autobushaltestelle angelaufen gekommen war. Der Laster hatte für so etwas keine Genehmigung. Von der Haltestelle her kam eine Schar Menschen mit ihren Bündeln gerannt. Zwei Polizisten näherten sich. Der Fahrer stieg aus und sprach leise mit ihnen. Sie tauschten etwas aus. Der Fahrer stieg wieder auf, um zu kassieren. Rey wollte ihn beschummeln, aber der Fahrer verstand seinen Job. Sie verhandelten. Rey wurde sein Hemd los. Zwei Stunden später bog der Laster in die Guanabacoa ein, fuhr weiter auf die Diez de Octubre und setzte nach und nach Leute
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