Der König von Havanna
Alle wurden zusammen gesetzt, die Aufseher blieben in den Gängen stehen. Kurz darauf trat das Orchester auf, und das Konzert begann. Sie spielten gut. Gute Salsa. Das Lokal war bald gerammelt voll mit jungen Leuten. Alle, bis auf die Insassen, tanzten. Sie waren dreiundzwanzig, alle in Grau gekleidet. Jungs im Alter zwischen dreizehn und achtzehn Jahren. Im Takt der Musik bewegten sie sich auf ihren Stühlen hin und her und sahen den tanzenden Mädchen zu, die in ihren kurzen Röcken, die den Bauchnabel freigaben, provozierend ihre Hüften bewegten. Es war jetzt Mode, den Bauchnabel zu zeigen. Inzwischen hatten sich auch die Aufseher entspannt und tanzten ein wenig, aber nur leicht, ohne die Kontrolle zu verlieren und ohne sich von ihrem Posten zu rühren. Die Erotik des Tanzes durchflutete den Saal, und die unablässige Musik stimulierte die Sinne, aber Reys schlechte Laune hielt sich, und außerdem musste er unbedingt pinkeln. Dringend. Hinten, auf der rechten Seite des Saals, war das Männerklo. Er bat um Erlaubnis, es aufsuchen zu dürfen.
»Mach schon, und beeil dich.«
Rey ging aufs Klo. Pinkelte. Ging zurück in den Saal. Seine Gruppe und die Aufseher waren im vorderen Teil, etwa vierzig Meter entfernt. Der Saal war gerammelt voll mit lärmenden, schwitzenden Leuten. Alle tanzten. Niemand sah hinüber zum Klo. Ohne nachzudenken, ging Rey ruhig zum Haupteingang hinaus. Niemand sah zu ihm hin, niemand stellte ihm Fragen, und er ging einfach weiter den Bürgersteig hinunter, aufs Geratewohl. Er hatte keine Ahnung, wohin er marschierte und warum er das tat. Er ließ das Dorf hinter sich, überquerte vor einem Friedhof die Straße. Die Nacht war stockdunkel. Das gefiel ihm. Er ging ganz langsam, schlenderte ohne jede Eile. Hinter dem Friedhof standen zu beiden Seiten der Straße ein paar Häuser. Auf einer Wäscheleine hingen ein paar Hemden, Shorts und ein Unterhemd zum Trocknen. Die Leute hier gingen früh zu Bett. »Mensch, wenn das kein Geschenk für mich ist.« Er riss die Kleidungsstücke ab und ging weiter. Kurz darauf zog er sich um und warf die graue Uniform in den Straßengraben. Jetzt trug er Zivilklamotten. Zwar war sein Kopf noch geschoren, aber Glatze trugen jetzt viele Männer. Gemächlich spazierte er weiter die dunkle Straße hinunter. In der Ferne waren links die Leuchtfeuer der Raffinerie und dahinter die Lichter der Stadt zu sehen. Ob sie ihn wohl schon suchten? Na gut, wenn man ihn schnappte, würde er kopfüber im Kerker landen. Das wäre schon schlimm. Aber nein, sie durften ihn einfach nicht finden. Doch letzten Endes war ihm auch das egal. »Alles in allem«, dachte er, »habe ich hier draußen nichts zu tun und drinnen auch nicht. Warum werden Leute überhaupt geboren? Nur, um kurz darauf zu sterben? Wo es doch nichts zu tun gibt. Ich verstehe nicht, wozu all diese Umstände. Man muss leben, sich mit fast allen schlagen, damit sie einen nicht verarschen, und am Ende ist alles Scheiße. Ach, mir doch egal, ob ich da drinnen oder hier draußen bin.«
Er ging weiter, bis er müde war. Er kam bereits in die Nähe des Hafens. Weiter hinten sah man die hell erleuchteten Schiffe in der Mitte der Bucht. Es war eine Zone mit lauten Fabriken, Lagerhäusern, riesigen Flächen, bedeckt mit Alteisen, von Gestrüpp überwuchert, überall verbeulte Autokarosserien, verrostete Metallcontainer; alles verlassen und desolat. Und nirgends eine Seele. Er war müde und kroch zwischen rostiges Eisen und Gebüsch an diesem dunklen, stillen Ort, machte es sich in einem alten Container bequem, weitab von der Landstraße. Hier würde ihn niemand sehen können. Dann schlief er ein.
Als er aufwachte, stand die Sonne hoch und brannte heiß. Er blieb still, lauschte, aufmerksam und reglos. Er identifizierte die Geräusche: Lastwagen, die auf der Landstraße hin und her fuhren, das Brummen der Fabriken, das sich darunter mischte, ein Presslufthammer, ein paar Rufe. Alles in weiter Ferne. Näher dran das Zwitschern verschiedener Vogelarten. Vielleicht saßen sie in den wenigen üppig belaubten Bäumen, die in ein paar Meter Entfernung standen. Eine frische Brise riss ihn aus seiner Schläfrigkeit. Er streckte sich, gähnte und stand auf. Vorsichtig sah er sich nach allen Seiten um, und ihm gefiel, was er da sah: ein Meer aus rostigem, verbogenem Schrott, Gestrüpp, ein paar Bäume, Ruhe und Stille. In der Ferne waren ein paar kleine Fabriken zu erkennen, und vor ihm führte ein sanfter Abhang hinunter zur Bucht mit
Weitere Kostenlose Bücher